: „Wir sind doch keine Asos“
Zentrale Annahmestelle in Gießen platzt aus allen Nähten / DDR-Emigranten werden als billige Arbeitskräfte im Straßenhandel umworben: Stundenlohn 15 DM / Trotzdem ungebrochener „Let's-go-west„-Optimismus ■ Aus Gießen Rainer Kreuzer
„Wer hier arbeiten will, der kommt auch zurecht“, meint ein 23jähriger Friseur, der nach seiner vorzeitigen Entlassung aus einem DDR-Knast am Feitag in der Bundesaufnahmestelle für DDR-Flüchtlinge in Gießen ankam. Über die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und die zunehmende Wohnungsnot in der BRD sei er informiert, doch „wer arbeitet, findet auch eine Wohnung“, lautet das Patentrezept des Neuankömmlings.
Ein 50jähriger Kraffahrer aus der sächsischen Textil -Metropole Karl-Marx-Stadt ergänzt ihn mit der Klarstellung, „wir sind doch keine Asos“. Er habe eine positive Einstellung zur Arbeit, betont er mehrfach. und wolle vom Staat nichts geschenkt haben. Die Arbeitslosigkeit im Westen ist nach seiner Auffassung vor allem ein Resultat der sozialstaatlichen „Verwöhnung“. Wegen der bisherigen Hilfe quäle ihn längst ein schlechtes Gewissen, jedoch keine Zukunftsangst. Denn wer die „richtige“, gemeint ist die protestantische, Arbeitseinstellung mitbringe, der komme im Westen auch klar. Bei den DDR-Flüchtlingen im Gießener Aufnahmelager besteht darüber ein offenbar breiter Konsens.
Bekräftigt wird ihr „Let's-go-west„-Optimismus durch die massenhaften Jobangebote, die an sämtlichen Eingangstüren und den Bäumen an der angrenzenden Allee ausgehängt sind. Offeriert werden Stellen vor allem für Kfz-Schlosser, Lkw -Fahrer und Elektromechaniker. Vereinzelt finden sich auch Angebote für Ingenieure und Techniker.
Sonntags wird die Straße vor dem Eingang des Aufnahmelagers zu einem regelrechten Flohmarkt für Arbeitsplätze. Mit protzigen Chefkarossen, bekleidet mit Lacoste-Hemden und schicken Buntfaltenhosen fahren die Bosse kleinerer und mittelständischer Unternehmen aus dem gesamten Bundesgebiet an den Gießener Meisenbornweg, um Arbeitsplätze zu akquirieren. Die Leute aus der DDR, die noch mit Klamotten im Stil der fünfziger Jahre daherkommen, zeigen sich von der Nabelschau westdeutschen Reichtums beeindruckt, aber auch mißtrauisch gegenüber den Angeboten.
Als „Bauernfängerei“ gelten bei vielen bereits die Arbeitsangebote auf der Straße. Meist seien die Jobs schlecht bezahlt, die dort angeboten würden, berichtet ein Kraftfahrer, der es vorzieht, über das Arbeitsamt einen „ordentlichen“ Arbeitsplatz zu suchen. Gehaltsangebote stehen nirgendwo an den Anschlägen. Ein südhessisches Kunststoffunternehmen, das ebenfalls in Gießen vertreten ist, bot auf Nachfrage 15 Mark brutto die Stunde - ein Preis, zu dem bundesdeutsche Facharbeiter in der Region kaum zu gewinnen sind.
Das zentrale Aufnahmelager in Gießen platzt aus allen Nähten. Für 500 Personen zugeschnitten, müssen jetzt rund 2.200 darin Platz finden. Die DDR-Bürger, die am Wochenende bei einem Fest an der ungarisch-österreichischen Grenze in den Westen flüchteten, konnten am Sonntag erst gar nicht mehr in Gießen aufgenommen werden. Nach einer kurzen Begrüßung wurden sie mit Bussen gleich weitergefahren, in ein neues Aufnahmelager in Schöppingen bei Münster. Zwei Drittel der jetzigen Lagerbewohner sind mit offiziellen Ausreisegenehmigungen über die Grenze gekommen.
Trotz drallvoller Enge und der brütenden Hitze in diesen Tagen herrscht unter den DDR-Emigranten gemütliche Langeweile. Viele sitzen alleine oder in kleinen Gruppen auf den Bänken im Hof und lesen Zeitungen, andere machen einen Bummel durch die Stadt. Ihre Zimmer sind als Aufenthaltsorte zu klein. Fünf bis sechs Personen sind dort jeweils untergebracht. Doch die meisten zeigen sich zufrieden. Ein 28jähriger Tischler aus Ost-Berlin kann „einfach nur danke sagen“ für die Unterbringung. Er schäme sich wegen jener seiner Landsleute, sagt er, die sich über das wohl teilweise schlechte Essen beschweren. Viele seien „Materialisten“, fügt er beklagend hinzu, die nicht wegen der politischen Verhältnissen in der DDR, sondern wegen des westlichen Reizes der Komsumgüter geflüchtet seien.
Die „allgemeine Verlogenheit“, die Bürokratie, die vielfältigen Behördenschikanen und die beschränkte Reisefreiheit in der DDR werden in Gießen fast von allen als ihre hauptsächlichen Fluchtgründe genannt. Dafür haben sie nicht selten ihr Eigenheim, kleine Unternehmen und Grundstücke in Honeckers deutschem Arbeiter- und Bauernstaat zurückgelassen, mit der Zuversicht, in der BRD alles wieder neu, besser und schneller aufbauen zu können.
Ehemalige DDR-Bürger unmittelbar nach der Ankunft im Aufnahmelager Gießen
Foto: Dietmar Gust
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