Moldau-Volksfront gegen Kompromiß

■ Demonstration gegen Beschluß des Obersten Sowjets in Kischinew / Keine Zustimmung für den Kompromißvorschlag von Gorbatschow bei den Massen / Generalstreik und Sezession angedroht

Moskau (ap) - Mehrere tausend Menschen sind am Freitag in der moldauischen Hauptstadt Kischinew wieder auf die Straße gegangen und haben gegen den Kompromiß im Sprachenstreit protestiert. Schon am Vorabend hatten an die zehntausend Demonstranten bis nach Mitternacht ihren Unwillen darüber bekundet, daß der Oberste Sowjet der Moldauischen Sowjetrepublik das mit dem Rumänischen identische Moldauisch zwar zur Amtssprache, nicht aber zur alleinigen Verkehrssprache bestimmt hatte.

„Die Leute sind empört“, sagte der moldauische Volksfront -Aktivist Wassili Nestase in einem Telefongespräch. „Wir brauchen nur eine Sprache. Wenn der Beschluß nicht revidiert wird, werden wir einen Generalstreik anfangen.“ Der nächste Schritt könnte die Sezession sein, fügte Nestase hinzu. „Wir sind kein rechtmäßiger Teil der Sowjetunion.“ Sein Kollege Konstantin Bogdanasch berichtete, auf einem Plakat der Demonstranten habe er gelesen: „Verehrte Russen, Mütterchen Rußland ruft euch nach Hause.“

Hunderte von Polizisten mit Schlagstöcken sicherten das Gebäude des Obersten Sowjets in Kischinew, der am Donnerstag mit 321 gegen 11 Stimmen bei nicht bekannter Zahl von Stimmenthaltungen das Gesetz verabschiedet hatte. Die Abgeordneten debattierten bis nach Mitternacht über die Ausführungsbestimmungen und traten am Freitag erneut zusammen. Abgeordnete aus Städten mit überwiegend russischer Bevölkerung forderten, daß sich ihre Stadtverwaltungen bei amtlichen Bekanntmachungen weiter des Russischen bedienen dürfen, obwohl durch den vorangegangenen Beschluß das Moldauische in Verwaltung und Wirtschaft obligatorisch geworden ist.

Gleichzeitig wurde durch den Beschluß vom Donnerstag die lateinische Schrift wieder eingeführt, die unter Stalin zur Untermauerung der These, Rumänen und Moldauer seien zwei verschiedene Völker, durch die kyrillische abgelöst worden war. Der ursprüngliche Entwurf sah außerdem vor, daß das Moldauische auch alleinige Verkehrssprache zur Verständigung mit Russen, Ukrainern, Bulgaren, Juden und Angehörigen anderen Nationalitäten wird. Die Deputierten entschieden sich aber schließlich für einen Kompromiß: Russisch und Moldauisch wurden gleichberechtigte Verkehrssprachen.

Der Kompromiß war vom moldauischen KP-Chef Semjon Grossu nach einem Telefongespräch mit Präsident Michail Gorbatschow vorgeschlagen worden. Er trägt dem Umstand Rechnung, daß die meisten Angehörigen der nationalen Minderheiten in der Moldauischen SSR nicht des Rumänischen mächtig sind, wohl aber in der Schule Russisch gelernt haben wie die Kinder in den anderen Unionsrepubliken der UdSSR auch.

Im Baltikum haben unterdessen die führenden Vertreter der Volksfronten Estlands, Lettlands und Litauens mit einer gemeinsamen Erklärung auf den Vorwurf des Zentralkomitees der KPdSU vom vergangenen Wochenende reagiert, separatistische Elemente in den drei baltischen Sowjetrepubliken heizten eine nationalistische Hysterie an. In der bei gemeinsamen Beratungen in Riga beschlossenen Stellungnahme heißt es, die Verfasser der ZK-Erklärung hätten nicht einmal den Versuch gemacht, über die Probleme mit den baltischen Republiken zu diskutieren.