: Polizei-Pistolero vor dem Nürnberger KOMM
Justiz in Bayern: Zeugen wandern in U-Haft, denn Polizeiaussagen haben „a priori einen Glaubwürdigkeitsvorschuß“ - sagt der Nürnberger Haftrichter / Der Anwalt: Versuch der Justiz, die Besucher eines Jugendzentrums einzuschüchtern ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler
„Als ich das KOMM betrat, hat mir der Fahrer des PKW eine Pistole vor das Gesicht gehalten.“ Der 28jährige Student Rainer wußte nicht, wie ihm am 11. März 1989 geschah, als er ein Konzert im Nürnberger Jugendzentrum KOMM besucht hatte. Er hätte es sich auch wohl kaum im Traum vorstellen können, daß er wegen der gleichen Sache ein halbes Jahr später in Untersuchungshaft einfahren sollte. Seit 5. September sitzt der Student schon in der Würzburger Justizvollzugsanstalt wegen Verdachts auf Meineid und Verdunkelungsgefahr, so der Ermittlungsrichter. „Wenn hier einer verdunkelt, dann die Polizei und die Staatsanwaltschaft“, behauptet dagegen der Nürnberger Rechtsanwalt Ingo Schmitt-Reinholtz.
Alles begann harmlos. Im Nürnberger Jugendzentrum KOMM, das in den letzten Jahren wegen seiner Bahnhofsnähe und politischer Aktivitäten ins Visier der Nürnberger Polizei geraten ist, geht am 11. März kurz vor zwei Uhr ein Konzert zu Ende. Zehn bis 15 Besucher verlassen das KOMM durch den Nebeneingang. Von hinten nähert sich ein Fahrzeug - wie sich erst viel später herausstellen sollte - von der „zivilen Einsatzgruppe“ der Nürnberger Polizei. Das Fahrzeug will an der Gruppe in der engen Gasse vorbei, die Hupe ertönt, schließlich wird ein Seitenspiegel von einer Frau verbogen. Daraufhin nimmt einer der beiden Fahrzeuginsassen die Verfolgung der Frau auf, die ins KOMM flieht, der andere zieht seine Waffe und hält damit die Konzertbesucher Clemens (23) und besagten Rainer in Schach.
Der 19jährige Schüler Alex erinnert sich genau: „Er hat die Waffe mit ausgestreckten Armen gehalten, zwischen den beiden hin- und hergeschwenkt und aus 70 Zentimeter Entfernung auf den Oberkörper- und Kopfbereich gezielt.“ Der 23jährige Koch Clemens schreit: „Feiger Scheißer, nimm die Waffe weg, die brauchst du hier nicht.“ Kurz darauf legen ihm die beiden Herren Handschellen an. Noch immer glauben die Umstehenden an Zuhälter aus dem Bahnhofsviertel, halten Clemens fest und rufen nach der Polizei. „Erst dann zeigte der Mann widerwillig und herablassend seine Polizeimarke“, gibt Alex später zu Protokoll.
Am 5. September schließlich muß sich Clemens vor dem Nürnberger Amtsgericht wegen Beleidigung verantworten. Während die beiden Zivilbeamten mit der Version aufwarten, der eine habe bei der Verfolgung der Frau seine Pistole verloren, der zweite hätte sie lediglich aufgehoben, ohne auf jemanden zu zielen, bekräftigen Alex und Rainer unter Eid die Bedrohung mit der Waffe. Das geht Amtsrichter Pruy zu weit. Noch im Gerichtssaal läßt er die beiden verhaften, wegen Verdachts auf Meineid. Clemens wird schließlich zu einer Geldstrafe von 2.000 Mark verurteilt. Am nächsten Morgen erläßt der Ermittlungsrichter Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr. Die Aussage eines Polizeibeamten habe „a priori einen Glaubwürdigkeitsvorsprung vor Aussagen anderer Leute.“ So einfach ist das. Alex bleibt in Nürnberg, Rainer wird nach Würzburg verschubt. Alexs‘ Rechtsanwalt Schmitt-Reinholtz legt sofort Haftbeschwerde ein. „Hier gibt es nichts mehr zu verdunkeln“, erklärt er, alle Aussagen stehen ja wortwörtlich in den Gerichtsprotokollen. Das muß auch der Haftrichter einsehen und ringt sich zu einem „ergebnisorientierten Kompromiß“ (Schmitt-Reinholtz) durch. Nicht mehr Verdunkelungsgefahr, sondern Fluchtgefahr wird nunmehr dem 19jährigen Alex, der die Abschlußklasse der Fachoberschule besucht, unterstellt. Gegen Meldeauflagen kommt er auf freien Fuß. Rainer hingegen sitzt noch immer in Untersuchungshaft.
Nachdem der Fall in der Lokalpresse publik wurde, melden sich bei Rechtsanwalt Schmitt-Reinholtz spontan vier weitere Personen. Sie bestätigen unabhängig voneinander die Aussagen von Alex und Rainer. Allein drei geben an, daß sie sich damals noch in der Nacht des 11. März ins Polizeipräsidium begeben hätten, um dort den Vorfall zu schildern. Doch die diensthabenden Beamten hätten eine Protokollierung abgelehnt und sie mit der Zusicherung verabschiedet, sie dann zu verständigen, wenn ihre Aussagen von Bedeutung wären. „Wann dann, wenn nicht bei der Verhandlung, sind diese Aussagen von Bedeutung“, fragt sich Schmitt-Reinholtz. Keiner der Betroffenen wurde von der Polizei über den Prozeß gegen Clemens verständigt.
„Da haben Polizisten aufgrund des KOMM-Traumas überreagiert“, vermutet ein Mitarbeiter des Jugendtreffs den überzogenen Waffeneinsatz des Zivilbeamten, der gefährlich enden kann, wie der vor einer Woche in Würzburg von einer Polizeikugel tödlich getroffene 17jährige Autoknacker beweist. Das „Trauma“ geht hauptsächlich auf die spektakuläre Massenverhaftung im März 1981 nach einer Hausbesetzerdemonstration zurück, an deren Ende eine katastrophale Blamage für Polizei und Justiz stand. Jahrelang wurden über die Lokalpresse Feindbilder gegen die KOMM-Besucher, derzeit etwa 20.000 im Monat, aufgebaut, die nur mühsam wieder reduziert werden konnten. Anwalt Schmitt -Reinholtz sieht denn auch in dem Vorfall selbst und vor allem in den juristischen Nachspielen den Versuch, KOMM -Besucher einschüchtern und kriminalisieren zu wollen. Er glaubt, daß zwischen der „Routinefahrt“ der Zivilstreife und den im Jugendzentrum stattgefundenen Treffen von Gruppierungen, die sich mit den Forderungen der im Hungerstreik befindlichen RAF-Gefangenen solidarisiert haben, ein Zusammenhang besteht. „Die schießen nicht ohne Grund mit Kanonen auf Spatzen.“
Morgen findet um 11 Uhr in Würzburg eine Demonstration für die Freilassung von Rainer statt. Treffpunkt: Unterer Markt, Innenstadt Würzburg
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