: Swinging Metropolis
■ 45. Was interessiert das Publikum?
„Wer A sagt, muß auch rsch sagen“ (Lotti Huber / Ina Blum Anita Berber). Noch eine von Nelsons Nackten muß Erwähnung finden, nicht zuletzt, weil bereits vor drei Wochen versprochen.
1923 reiste der mittlerweilige Direktor Nelson nach Paris, ist dort begeistert von der Dschungelrevue Josephine Bakers (17) und ihres Partners Louis Douglas (20). Die muß er haben! Er engagiert das ganze Brimborium mitsamt großem Ensemble, Jazzband und allen Kulissen. Aber bevor die Show am Kudamm starten kann, gibt's allerlei Unbill. Der Maestro erzählt:
„Ich führe die Agentin ins Theater. Vor der Bühne bleibt sie stehen und fragt: 'Wo ist der Saal?‘
'Hier.‘
Ich sehe, wie die Amerikanerin totenbleich wird, nach einem Halt sucht und zusammenzubrechen droht. Mühsam erholt sie sich von ihrem Schrecken und überschüttet mich mit Vorwürfen: 'Warum haben Sie mir denn nicht gesagt, daß Sie überhaupt kein Theater zur Verfügung haben? Dieses Podium, Herr, ist doch keine Bühne für eine Tänzerin. Wo sollen wir denn unsere Riesenkulissen aufstellen? In dieses kleine Zimmer gehen ja kaum unsere Musiker hinein. Oh Gott, wie hast du uns gestraft!‘
Ich gestehe ihr, daß ich ihr die Intimität meiner Kleinkunstrampe verschwiegen habe, weil ich fürchtete, daß sie nie, nie zu mir nach Berlin gekommen wäre. 'Aber nun sind sie alle hier, und da hilft kein Stöhnen und Streiken. Wir müssen einen Ausweg finden. Machen Sie mir Vorschläge. Ich lasse es mich was kosten. Ich baue gern um und an und zu und aus. Aber die Baker tritt auf.‘
Den Vorhang haben wir abmontiert, um Platz zu schaffen. Die fünf Mann im Orchester haben wie aneinander und übereinander zusammengequetscht. Die Agentin fordert, daß auch die Seitenlogen und die ersten Parkettreihen zu verschwinden haben. Aber da stelle ich mich davor. Das sind meine besten Einnahmen, sage ich ihr, wovon soll der Schornstein rauchen, wenn Sie mir den Kamin vermauern!
Aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Erfolg, und es wird ein Riesenerfolg. Wir müssen den Vertrag verlängern. Ich spiele nebenan im Theater am Kurfürstendamm in einer anderen Revue 'Die Nacht der Nächte‘, und wenn wir fertig sind, ziehen wir alle hinüber zur Josephine, die sich an der Spree noch glücklicher als daheim fühlt, und die uns jede Nacht an der Bar erwartet.“
Damit knallt Nelson voll rin in den frischen USA-Kult. Der Kudamm saugt die Erscheinungsformen der Neuen Welt ein wie jener sprichwörtliche Schwamm; alle Krawalle und Nöte bleiben draußen. Rosa Valettis Bruder Herrmann Vallentin singt: „Was interessiert das Publikum? / Hunger, Elend, Not von Millionen? / Daß Tausende im Zuchthaus verrecken- / interessiert das das Publikum? / I wo, der nackte Hintern der Anita Berber, der / interessiert das Publikum!“
Importierte Dekadenz äußert sich in Tänzen, deren drei kuriose, kurzlebige Schöpfungen hier im Bilde vorgestellt seien. In Reim-dich-oder-ich-freß-dich-Pidgeon dichtet Walter Mehring dazu: „Mit Republik und Fürstenthron / spielen im Ragtime-Takt sie: / I want to be / I want to be / I want to be down home in Dixie, / und Cowboys rings / bei echten Drinks, / my Darling Girl, schenk ein und mix sie! / Und bist du, wo die Dollars spring'n / und finstre Nigger keifen, / dann hörst du die Englein im Himmel sing'n, / was die Spatzen vom Dache pfeifen.“
Paul Graetz, prädestinierter Mehring-Zungenartist, interpretiert diesen zeitgeistigen Erguß zur satirischen Unterhaltung; die theoretische Grundlage zum Syncopating Delerium liefert bereits 1921 die „Weltbühne“:
„Amerika hat, so sagt man wenigstens, keinen Alkohol mehr. Es hat auch keinen nötig. Es hat Jazz-Bands. Das sind Musikkapellen, die einen ohne Alkohol besoffen machen... Und noch eine nette Eigenschaft hat der Jazz. Er ist so völlig würdelos. Er schlägt jeden Ansatz von Würde, von korrekter Haltung, von Schneidigkeit, von Stehkragen in Grund und Boden. Wer Angst davor hat, sich lächerlich zu machen, kann ihn nicht tanzen. Der deutsche Oberlehrer kann ihn nicht tanzen. Der preußische Reserveoffizier kann ihn nicht tanzen. Wären doch alle Minister und Geheimräte und Professoren und Politiker verpflichtet, zuweilen öffentlich Jazz zu tanzen! Auf welch fröhliche Weise würden sie all ihrer Würde entkleidet! Wie menschlich, wie nett, wie komisch müßten sie werden! Kein Dunstkreis von Dummheit, Eitelkeit und Würde könnte sich bilden. Hätte der Kaiser Jazz getanzt - niemals wäre das alles passiert! Aber ach! er hatte es nie gelernt. Deutscher Kaiser zu sein, das ist leichter als Jazz zu tanzen.“
Der US-Wahn eskaliert in Zivilisationanbetung im Gegensatz zur „blutleeren Abstraktion des Expressionismus“. Boxkämpfe sind in, auf amerikanische Art & Weise wird geworben, etwa für „Lux“ von Sunlight“ (was sich später zum Zwitter „Sunlicht“ verknotet) oder den „Benz der 200 PS Weltrekordwagen“. Da erhebt so mancher schon Stimme und Zeigefinger, sieht warnend im Amerikanismus „deutsche Tüchtigkeit (...) als exotische Marke zurückimportiert“ (zitiert nach Hans Dieter Schäfer).
Emphatisch äußert sich George Grosz; und wie das klingt, davon nächstens mehr.
Norbert Tefelski
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