Zahlen die Schuldnerländer überhaupt noch?

Offiziell will niemand etwas von fiktiven Einnahmeverbuchungen wissen - aber weshalb ist die Summe der Rückzahlungen so hoch?  ■  Aus Washington K. Melchers

„Die Schuldner zahlen kaum noch“, jammerte bei einem der vielen Presse-Essen in Washington ein führender Dritte-Welt -Schuldenmanager der Deutschen Bank. Vom „moral hazard“, wie die Banker den Schuldnerstreik nennen, seien große Schuldner wie Argentinien, Venezuela und Peru befallen, die teilweise schon seit fast zwei Jahren keine Zinsen mehr zahlen, von Tilgungen ganz zu schweigen. Auch Brasilien hätte die Zahlungen schon wieder eingestellt, stöhnte der Banker. Selbst kleine Länder wie Costa Rica, das vor einigen Jahren noch als mittelamerikanische Schweiz galt, lassen sich von der vereinten Bankenmacht nicht mehr beeindrucken und zahlen nur noch von „Fall zu Fall“ - und wenn, dann höchstens einen Bruchteil ihrer Schuldendienstverpflichtungen.

„Von afrikanischen Ländern, einschließlich Ägypten, sehen wir - abgesehen von Ausnahmen wie Zimbabwe - keinen Pfennig mehr“, meinte der schuldgestreßte Geldverleiher. Regelmäßig habe in Lateinamerika nur Mexiko gezahlt - allerdings immer erst nach harten Umschuldungsverhandlungen. Auch die meisten asiatischen Länder zahlten. Südkorea, Taiwan und Singapur tilgen ihre Schulden sogar inzwischen in großem Stil.

Dennoch - das Schuldenwadi trocknet aus. So kann es der deutsche Bankfachmann nicht verstehen, wie der IWF und andere internationale Schuldenstatistiker zu ihren unverändert hohen Schuldendienstzahlen gelangen. In seinem jüngsten, der Washingtoner Tagung vorgelegten World Economic Outlook weist der IWF zum Beispiel für 1988 einen tatsächlich gezahlten Netto-„Schuldendienst“ in Höhe von 163 Milliarden Dollar aus. 1989 soll die Zahl auf 155 Milliarden Dollar fallen, um schon 1990 wieder eine Rekordhöhe von 169 Milliarden Dollar zu erreichen. Hinzu kommt noch eine vom IWF neu eingeführte statistische Kategorie, die „Ausnahme -Finanzierungen“, die auch Zahlungsrückstände enthält, und die von zwölf Milliarden Dollar 1981 auf 52 Milliarden 1989 gestiegen ist.

Experten des IWF und der Weltbank stehen erwartungsgemäß zu ihren Zahlen. Ein längerer Schuldenstopp käme die Schuldner immer noch teuer zu stehen. Brasilien habe bei seinem einseitigen Moratorium von 1987 rund 1,3 Milliarden Dollar draufgezahlt. Einen besonders hohen Preis zahle Peru. Auch gebe es für den IWF genügend Möglichkeiten, die Angaben der Zentralbanken und Finanzminister zu überprüfen. Die tansanische Zentralbank zum Beispiel wußte zwar nicht mehr, wie hoch ihr Schuldenstand sei. Auch hätte sich der Rückkauf von einigen Schuldtiteln durch Bolivien verzögert, weil die Regierung in Bogota die Originale der Kreditverträge nicht wiedergefunden habe. Aber solche Fälle seien die Ausnahme, die bei der Gesamtsumme nicht ins Gewicht fielen.

Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß die Zentralbanken zumindest zeitweilig ein ungenaues, wenn nicht sogar falsches Bild von tatsächlichen Zinszahlungen haben. Es ist nämlich eine gängige Praxis der Banken, die nicht gezahlten Zinsen dem Kredit zuzuschlagen - eine sogenannte Zinskapitalisierung.

In jedem Fall ist nun der ausstehende Zins als Forderung gegen den Schuldner verbucht. Die Bilanz muß aber ausgeglichen werden, so daß eine fiktive Einnahme verbucht werden muß, wenn der Forderungszuwachs nicht sofort wertberichtigt wird. Solche fiktiven Einnahmeverbuchungen sollen durchaus vorkommen, berichten Insider.

Da sich die Bankenaufsicht in erster Linie nur für die Bonität einer Bank insgesamt interessiert, mögen fiktive Zinseinnahmen zeitweilig unerkannt bleiben oder gar toleriert werden. Dies würde dann dazu führen, daß die Zentralbanken - und für die ganze Welt der IWF - die nicht gezahlten Zinsen als tatsächlich gezahlte registriert haben. Commerzbankier Walter Seipp meinte dazu allerdings, daß dies vielleicht in Panama möglich sei, nicht aber in der Bundesrepublik.

Unabhängig von der Häufigkeit und Relevanz solcher Bilanzverschönerungen und der Verschleierung ungezahlter Zinsen zeichnete sich bei der Jahrestagung in Washington ab, daß die „Zahlungsmoral“ der Dritte-Welt-Schuldner sich derzeit auf einen Tiefpunkt zubewegt. So stellte der venezuelanische Staatspräsident Carlos Andres Perez im Vorfeld der Verhandlungen über die Schuldenreduzierung von Venezuela fest, daß die Schuldnerländer sich „im Krieg mit den Gläubigerbanken“ befänden, in dem beide Seiten „alle Raketen“ einsetzten, die ihnen zu Verfügung stünden. Die Banken hätten „elektronische Gehirne, aber kein Herz und keine Seele“, sie kümmerten sich nicht um die sozialen Realitäten.

Auf der anderen Seite werfen die US-Banken ihrem Finanzminister Nicholas Brady vor, er habe mit seiner Initiative zur Schuldenreduzierung den Stein ins Rollen gebracht. Der Chef von Chase Manhatten, Willard Butcher, schimpfte, daß die Baker-Initiative den „Widerstand einiger Entwicklungsländer erhöht habe, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen“. Da alle hochverschuldeten Länder vom Baker-Plan profitieren sollen, ist tatsächlich kaum zu erwarten, daß sie ihren derzeit noch gültigen Schuldendienst leisten, wenn sie damit rechnen können, daß sie bald weniger zahlen müssen. Kurz vor der Jahrestagung winkten deshalb einige US-Großbanken mit dem Zaunpfahl, indem sie größere Kreditrückstellung durchführten. Morgan Guaranty erhöhte seine Rücklagen um zwei Milliarden auf drei Milliarden Dollar. Damit hat die Bank 100 Prozent ihrer Entwicklungsländerkredite wertberichtigt und abgesichert. Die Kreditabsicherungen befähigen die US-Banken, wozu die deutschen Banken schon lang in der Lage sind: sich von den Schuldnerländern und dem Brady-Plan unabhängiger zu machen. Am vergangenen Freitag führten dann Top-Banker der USA mit Finanzminister Brady ein Gespräch, bei dem es laut hergegangen sein soll. Offiziell erklärte die US-Regierung danach, sie begrüße die Maßnahmen der Banken, da ihnen dadurch ein Schuldenerlaß leichter falle. Doch ob die Geldhäuser dazu bereit sind, darf eher bezweifelt werden.

Alfred Herrhausen mußte jedenfalls in Washington eingestehen, daß im Falle Mexiko die Deutsche Bank zwar eine „Bank der Schuldenreduzierung“ sei, die Citibank aber eine „new money bank“. Auch der Bundesverband deutscher Banken schloß sich nicht der Herrhausen-Linie an. Er erklärte in Washington, daß die Brady-Initiative in einigen Ländern „unerfüllbare Erwartungen geweckt“ habe. Die meisten Banken dürften sich also der Deutschen Bank nicht anschließen. Ob mit diesem Theaterdonner die „Zahlungsmoral“ der Schuldnerländer aber wieder aufgerichtet werden kann, ist fragwürdig. Die Aussicht auf eine „heimliche“ Beilegung der Schuldenkrise bleibt ungewiß.