piwik no script img

Resolutionen setzen die SED unter Druck

■ Der Aufruf der DDR-Musiker hat weite Verbreitung gefunden / Auch Grundorganisationen der SED schicken Resolutionen ans ZK / Niemand wird sanktioniert, doch was wird nach dem 7.Oktober aus den neuen Freiräumen?

Ein internationales Gemeinschaftsprojekt soll die gesunkene Titanic heben. Vorher einigt man sich darüber, was jede der drei beteiligten Nationen für sich beanspruchen darf: Die USA will das Gold, die Sowjetunion läßt ihre Taucher nach High-Tech suchen. Und was sucht die DDR-Regierung? Antwort: die Kapelle, die noch bis zuletzt gespielt hat.

Disco-time im „Franz-Club“ an der Ostberliner Schönhauser Allee, wo auch dieser Witz umgeht. Die Rock-Band des Abends namens „Flair“ schwimmt auch schon auf der Titanic-Welle: „Schön, daß ihr nach den Sommerferien überhaupt wieder da seid!“ Im Vorprogramm hat Discjockey Peter aber schon mal deutlich gemacht, daß viele Leute auch bewußt hierbleiben und etwas verändern wollen. Diskret weist er auf die Wandzeitung im Vorraum hin. Dort hängt zum Beispiel ein Interview mit KollegInnen der 22jährigen Birgit, die sich über Ungarn abgesetzt hat. Endlich werden Probleme wenigstens angesprochen. Gabi spricht über bürokratische Wohnungsvergabe, Jörg meint, daß es „viel Anziehendes im Westen gibt“, und Dagmar gibt zu, daß „unsere FDJ ... da ganz einfach versagt“ hat.

Gleich daneben ist ein maschinegeschriebener Durchschlag jener Resolution angepinnt, die bekannte DDR-Rockgruppen („Pankow“ und „City“), Liedermacher und auch Fernsehstars wie Frank Schöbel vor zwei Wochen in die Debatte geworfen haben (dokumentiert in der taz vom 22.9.). Um eine „Öffnung der Medien“ geht es da, um „Änderung der unhaltbaren Zustände“, um den „Umgang mit andersdenkenden Minderheiten, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheit sind“.

Daß der Aufruf jetzt überall verbreitet wird, kann die SED -Führung offenbar nicht mehr verhindern. Alle Initiatoren haben sich verpflichtet, sie bei jedem ihrer Auftritte zu verlesen - und setzen das auch gegen FDJ-Leitungen und Jugendzentren durch, auch wenn die bisweilen mit einer Absage der Veranstaltungen gedroht haben. Repressalien im nachhinein treffen auf geballten Widerstand: In Frankfurt/Oder sollte ein Jugendclubleiter auf Anweisung der SED-Kreisleitung entlassen werden, weil er die Resolution hatte verlesen lassen - doch Gewerkschaftsgruppe und Grundorganisation der Partei solidarisierten sich, er konnte bleiben. Mittlerweile hat sich sogar das staatliche Komitee für Unterhaltungskunst der DDR die Künstlerresolution zu eigen gemacht.

Selbst in der Partei ist die aufmüpfige Basis derzeit nicht zu stoppen: Reihenweise schicken SED-Grundorganisationen aus Instituten der Akademie der Wissenschaften, Verlagskollektiven und anderen kulturellen Einrichtungen Resolutionen im Stil der Musiker an ihre Kreisleitungen. Zur Sicherheit geht meist eine Kopie ans ZK, damit die Basismeinung nur ja nicht auf dem Weg nach oben irgendwo hängenbleibt. In einem Verlag konnte die Resolution sogar einstimmig verabschiedet werden: Dort schlugen jüngere Kollegen gleich zu Beginn der Debatte so harte Töne an, daß die konservativen älteren Genossen einen maßvoll formulierten Appell für Öffentlichkeit und Reformen schließlich als eine Art Kompromiß mittrugen.

„Bis vor einigen Wochen war es noch Ziel der Parteiführung“, so meint ein SED-Mitglied, „ungeschoren bis zum 12.Parteitag zu kommen. Jetzt reicht ihre Perspektive nur noch bis zum 40.Jahrestag am nächsten Samstag. Bis dahin haben wir jeden Freiraum. Die Frage ist: geben sie dann nach - oder schlagen sie dann zu?“ Bis Samstag jedenfalls wird noch hektisch nach der Kapelle der Titanic gesucht.

Tobias Lehmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen