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Eingeschränktes Streikrecht in der UdSSR

■ Dringlichkeitsgesetz sieht Truppeneinsatz an strategisch wichtigen Punkten bei Armenienblockade vor / Generelles Streikverbot im Obersten Sowjet für Energie-, Transportwesen und Staatsorgane beschlossen / Unabhängige Streikkomitees pochen auf Interessenvertretung

Für Sofortmaßnahmen gegen die Streiks im Transportwesen, die die ganze Sowjetunion lähmen, hat sich am Dienstag eine überwältigende Mehrheit der Deputierten des Obersten Sowjet ausgesprochen (304 gegen sechs Stimmen bei zehn Enthaltungen). Gleichzeitig zeigte sich aber, daß das ursprünglich vom Ministerpräsident Voronin vorgeschlagene generelle Streikverbot für 15 Monate in diesem Gremium nicht durchzusetzen war.

Ein derart weitgehendes Verbot hätte dem neuen Gesetz „Über das Lösungsverfahren bei kollektiven Arbeitsstreitigkeiten“ widersprochen, das dem Obersten Sowjet gleichzeitig vorlag und dessen erste fünf Absätze bis zum Dienstag abend ebenfalls verabschiedet wurden. Dieses Gesetz verbietet ohnehin Streiks im Verkehrswesen, auf dem Gebiet der Energieversorgung und bei den Staatsorganen. Der Entwurf schließt die meisten politischen Beweggründe als Rechtfertigung für einen Streik aus. Für Arbeitsstreitigkeiten sieht das Gesetz ein dreizehntägiges Schlichtungsverfahren in zwei Instanzen vor. Sollte dies allerdings scheitern, haben nur noch der Oberste Sowjet der jeweiligen Republik oder aber der Oberste Sowjet der UdSSR das Recht, den Streik bis zu zwei Monaten auszusetzen.

Das Dringlichkeitsgesetz „Über unaufschiebbare Maßnahmen zur Gewährleistung eines normalen Funktionierens des Eisenbahntransportes und der grundlegenden Zweige der Volkswirtschaft“ wurde erst am Abend von Ministerpräsident Ryschkov vorgelegt. Diesmal sprach Ryschkov ohne Konzept, temperamentvoll, spontan und engagiert und peitschte den Entwurf ohne größeren Widerstand durch. Vorgesehen ist der Einsatz von Truppen des Innenministeriums zur Aufrechterhaltung des Verkehrs und auch gewöhnlicher Truppen an strategischen Punkten wie Brücken und Tunneln. Ryschkov sprach direkt aus, daß an ein solches Vorgehen vorerst angesichts der Blockade Armeniens durch die Nachbarrepublik Aserbaidschan gedacht ist. Nazim Ragimov, ein Sprecher der aserbaidschanischen Volksfront erklärte unmittelbar nach der Abstimmung: „Wenn das Militär die Eisenbahn übernimmt, wird es ganz bestimmt einen Generalstreik in der Republik geben, die Frage ist nur wann.“ Obwohl Ministerpräsident Gorbatschow sich ursprünglich für die sehr viel weitergehendere Variante des Sondergesetzes stark gemacht hatte, zeigte er sich mit der Entscheidung doch zufrieden: „Der Oberste Sowjet und die Regierung haben entschlossen im Interesse des Volkes und der Perestroika gehandelt“. Schon während der vorhergehenden Debatte hatte Gorbatschow indirekt ein neues Ultimatum zur Aufhebung der Blockade Armeniens durch Aserbaidschan gestellt, er sprach von einer Frist bis zum 9. Oktober, die man den örtlichen Kräften lassen wolle, um Konflikte aus eigener Kraft beizulegen.

Nicht weniger heftig als die „Unaufschiebbaren Maßnahmen“ wurde das Gesetz zum „Lösungsverfahren von Arbeitskonflikten“ diskutiert, nur mit dem Unterschied, daß bei den abgestimmten Absätzen der seit Beginn der Sitzungsperiode vorliegende Regierungsentwurf solide Mehrheiten fand. So konnten sich zum Beispiel die Kritiker nicht durchsetzen, die vorschlugen, das juristische Gebilde doch gleich offiziell als „Streikgesetz“ zu bezeichnen, „weil das Volk es sowieso so nennen wird“. Mit dem Volk argumentierte auch ein Deputierter, der selbst einem Streikkomitee angehört. Er konterte den letzten Vorstoß einiger Mitglieder des offiziellen Gewerkschaftsverbandes, die gern rückgängig machen wollten, was sich seit dem Sommer als Änderung in die jetzige Fassung eingeschlichen hat: nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch von den Arbeitern spontan gewählte Streikkomitees werden als offizielle Verhandlungspartner bei der Schlichtung anerkannt.

Wer diese Lösung wieder aufheben wolle, meinte das empörte Streikkomiteemitglied, müsse damit rechnen, daß die Vertreter des Proletariats unabhängig vom Gesetz entschieden, welchen Gremien sie ihr Vertrauen schenken wollen.

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