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Lüttich: Leben in einer bankrotten Stadt

Die belgische Provinzhauptstadt ist wieder einmal zahlungsunfähig / Ein Sparplan sieht Massenentlassungen vor / Bei einer Protestkundgebung kam es zu Straßenschlachten / In der Stadt türmen sich Müllberge und staut sich der Verkehr  ■  Aus Lüttich Klaus Haas

La cite ardente, die glühende Stadt, so heißt Lüttich im Volksmund; gemeint ist damit nicht nur der aufbrausende Charakter der Einwohner. „Feuer“, denkt in diesen Tagen oft der ahnungslose Besucher, schließlich rasen dauernd schwere Feuerwehrwagen mit kreischenden Sirenen durch die winkligen Straßen. Doch die Feuerwehrleute sind meist nicht im Einsatz, sie äußern vielmehr ihren Unmut über die Nichtauszahlung ihrer Gehälter. Lüttichs Stadtkassen sind leer, und der „Gemeindekredit“, ein öffentliches Kreditinstitut, das konkurrenzlos die finanziellen Belange der 589 belgischen Kommunen betreut, verweigert der Stadt die Auszahlung eines Überbrückungskredits von 25 Millionen DM, solange ein umfassender Sparplan nicht den Stadtrat passiert hat.

In der Nacht zu Dienstag war für diesen Sparplan zum zweiten Mal innerhalb von acht Tagen keine Mehrheit im Lütticher Stadtrat gefunden worden. Sieben der 23 sozialistischen Stadträte, die gemeinsam mit zehn Christdemokraten die Mehrheit bilden, stimmten mit der Opposition, die aus Liberalen und Grünen besteht, und sorgten für ein Patt. Kernstück des Sparplans, den die wallonische Regionalregierung der Stadt zur Sanierung ihres Schuldenberges verschrieben hat, ist die Reduzierung des Personalbestandes um fast ein Viertel, von derzeit 5.550 auf 4.037 Stellen. Ungefähr 500 Beschäftigte mit befristeten Verträgen erhielten bereits zum ersten Oktober die Kündigung.

Lüttich kann keine Gehälter mehr zahlen. Schon seit Wochen wird das öffentliche Leben von Bummelstreiks und Demonstrationen durcheinandergebracht. Dienstag kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, als vermummte und teilweise stark betrunkene Feuerwehrleute in einer Bankfiliale des „Gemeindekredits“ und im Lütticher Sitz der Christdemokraten (PSC) die Einrichtung zerstörten, Feuer legten und danach die Häuser unter einen meterhohen Löschschaumteppich legten. Mittwoch distanzierte sich Christian Remacle von der sozialistischen Angestelltengewerkschaft, der die meisten Lütticher Beamten angehören, von den „Ausschreitungen“, kündigte aber an, er könne seine Mitglieder nicht auf Dauer im Zaum halten. Mittwoch besetzte die Gemeindepolizei zeitweilig das Rathaus. Für die Sicherheit in der Stadt sorgt mittlerweile die staatlich organisierte Gendarmerie. Auch Donnerstag blieb der Müll liegen, demonstrierte das städtische Personal. Am Freitag bot sich das schon gewohnte Bild. Ein Ausweg ist erst Montag in Sicht, wenn der Stadtrat im dritten Anlauf über den Sanierungsplan abstimmt. Der Ausgang ist ungewiß.

Lüttichs Schuldenberg beträgt 1,5 Milliarden DM. Höher verschuldet ist keine andere belgische Stadt. Die Gründe liegen teils in der Bauwut der Golden Sixties. In den Siebzigern wollte die 200.000-Einwohner-Stadt mithalten mit ihren historischen Schwestern Maastricht und Köln. Ein Opernhaus und ein Symphonieorchester mußten her, unter der Place St. Lambert sollte ein unterirdisches Nahverkehrszentrum entstehen. Heute klafft dort noch immer eine riesige Bauruine. 1976 steht die Kommunalfusion an, und Lüttich will den eingemeindeten Vorstädten dieselben Dienstleistungen bieten, wie sie den Urlüttichern zustehen, aber gleichzeitig kündigt sich die Wirtschaftskrise an. Im strukturell veralteten, Lütticher Industriebecken werden Stahlriesen wie Coqueril Sambre oder die Waffenfabrik FN Herstal mit Massenentlassungen wieder rentabel gemacht. Zum Ausgleich stellt die Stadtverwaltung mehr Personal ein und verschuldet sich immer weiter.

Mittlerweile wirft die Wirtschaft Lüttichs wieder Gewinne ab, in der Stadt florieren die kleinen und mittelgroßen Unternehmen und sinken die Arbeitslosenzahlen. Nur die Stadtverwaltung kriegt ihre Finanzen nicht in den Griff: 1983 wurde ein erster Sparplan von der ersten rot-grünen Mehrheit Europas gegen die Gewerkschaften durchgesetzt. Damals wurden die Gehälter um 15 Prozent gekürzt. Jetzt steht eine zweite Radikalkur an.

Wie lebt es sich in einer bankrotten Stadt? Nicht gut. Wer kann - jährlich sind es über 4.000 -, wandert in die umliegenden Gemeinden, unter anderem, um dem kommunalen Steuerdruck zu entgehen. Die, die bleiben, organisieren sich. In der Rue de l'Universite, einer Geschäftsstraße, haben die Anwohner einen Müllcontainer gemietet, um zu verhindern, daß die Müllsäcke sich aufstapeln, weil wochenlang die Müllabfuhr nicht fährt. Vorläufig funktionieren die kommunalen Kinderkrippen noch. Polizei und Feuerwehr machen Dienst nach Vorschrift. Komplizierter wird es, wenn etwa ein Reisepaß gebraucht oder Hochzeitspläne geschmiedet werden. Dann bedarf es im 18 Stockwerke hohen kommunalen Verwaltungszentrum einer großen Überredungskunst. Nur widerwillig werden Geburten registriert, unproblematisch werden aber Totenscheine vergeben. Lüttich begräbt seine Toten noch. Die leidgeprüfte Bevölkerung nimmt das resigniert hin. Auf ihr Verständnis wartet das Stadtpersonal allerdings vergeblich.

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