: „Das Volk muß am Ball bleiben!“
■ 10.000 protestierten in Ost-Berlin gegen die Krenz-Wahl / SED-Funktionäre beim Straßendialog in der Defensive
So schwer hatte sich die SED den Dialog wohl nicht vorgestellt. Die (fast ausschließlich) Männer, die sich am Dienstag abend in Lederjacke oder grauem Sommeranzug mit Parteiabzeichen am Revers an den Rand der Demonstrationsroute gestellt haben, haben wenig Erfolg. Die meisten jungen Demonstrationsteilnehmer halten lieber ihr kurzes Sit-in vor dem Palast der Republik ab, wo das Parlament tagt (Motto: „Volkskammer - welch ein Jammer“) und ziehen weiter. Sie wollen keine Diskussion, jedenfalls nicht mit kleinen Parteifunktionären, die „immer bloß abwiegeln“. Ja, mit der Parteispitze würden sie schon reden. Die wird auch kräftig herausgefordert. Beim nächsten Sit-in vor dem Staatsratsgebäude auf der anderen Seite des Marx-Engels -Platzes schallen die Sprechchöre hoch: „Egon zeig dich! Auf den Balkon!“ Und weiter geht es mit dem lachend-drohenden Ruf: „Wir kommen wieder“, über die Spreebrücke zum ZK -Gebäude. Die gut hundert Meter breite Front ist von einer lockeren Reihe eines Wachregiments abgeschirmt. Und während die einen der Parteispitze noch einen maßvollen Personalwechsel empfehlen („Krenz allein darf nicht sein Modrow muß sein“), skandieren andere „Volksabstimmung!“ und „Freie Wahlen!“
Ganz erfolglos allerdings ist der freiwillige Arbeitseinsatz der Männer mit der rot-goldenen Anstecknadel nicht. An jeder der geheiligten Stätten des Arbeiter- und Bauernstaates bleiben aus der Demonstration kleiner und größere Trauben von Menschen zurück, die sich auf ein „sachliches Gespräch“ einlassen. Doch an die Spitze der Reformbewegung setzt die SED sich damit nicht, die Funktionäre hangeln sich eher mit dem Rücken an der Wand entlang.
Da ist der smart-diplomatische Vize-Außenminister, der das „bisher gestörte Verhältnis zur Perestroika“ bedauert und von seiner Plauderei mit Gorbatschow am 7.Oktober erzählt. Er wird schnell mit Berichten über die Prügelorgien draußen vor dem Festsaal konfrontiert. Da ist der ZK-Mitarbeiter, der den Umstehenden weismachen will, bei ihnen habe man „Eingaben“ von Bürgern immer „nach Recht und Gesetz“ bearbeitet und der sich von einer Frau schildern lassen muß, wie sie kürzlich mit ihrer Eingabe fünf Monate hingehalten und dann mit juristischem Formelkram abgespeist wurde.
Lieblingsthema aber sind die Privilegien der Nomenklatura. Und da winden sich die Funktionäre: „Ich fahre auch keinen Volvo.“ - „Ach“, tönt es von hinten“, „die fahren wohl alle leer rum.“ Im Zweifelsfall sind sie „auch dagegen“ - zum Beispiel gegen die Extrawohnsiedlungen für Parteimenschen, und von ganzen Einkaufsstraßen mit Westwaren glauben sie ganz unschuldig: „Die sind doch nur für Diplomaten.“ - Auch die abgestandene Formel, die Güterknappheit sei eben ein ökonomisches Problem und „wir müssen eben gemeinsam arbeiten“, will niemand mehr hören, denn: „Das haben wir doch nun schon 40Jahre gemacht.“
Ein Rentner (Monatsrente 515 Mark), der „zufällig in die Demonstration reingeraten“ war, freut sich jedenfalls über den Verlauf des Dialogs: „Das Volk muß am Ball bleiben - so lange, bis die die Hosen gestrichen voll haben.“
Tobias Lehmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen