: Ausreiser und Demonstranten amnestiert
■ DDR-Staatsrat verkündet Amnestie / Forderung der Bürgerrechtsgruppen erfüllt / Erneut Demonstrationen in verschiedenen DDR-Städten / Akademie der Künste warnt vor Kampagnenpolitik / 'adn'-Journalisten fordern wahrheitsgetreue Berichterstattung
Berlin (taz/ap) - Menschen, die bei der Flucht aus der DDR erwischt und deshalb strafrechtlich belangt worden sind, wurden gestern durch einen Beschluß des DDR-Staatsrates amnestiert. Die Amnestie gilt ebenfalls für Personen, die bei nichtgenehmigten Demonstrationen festgenommen worden sind. Noch nicht abgeschlossene Verfahren mit solchen Tatvorwürfen werden eingestellt. Inhaftierte sollen bis spätestens 30.November 1989 entlassen werden. Ausgenommen werden Personen, die bei ihrer „Straftat“ Gewalt angewendet oder zu Gewaltanwendung aufgefordert haben. Mit dieser Amnestie ist eine wesentliche tagespolitische Forderung der Bürgerrechtsgruppen erfüllt worden.
Ein neues Reisegesetz hat Ministerpräsident Stoph am Donnerstag abend in einer Fernsehansprache für die nächste Sitzung des Ministerrates angekündigt. Nach unbestätigten Berichten aus „hochrangigen SED-Kreisen“ wird nach dem neuen Reisegesetz jeder DDR-Bürger 30 Tage im Jahr in den Westen fahren dürfen, er soll dafür allerdings nur 15 D-Mark an Devisen erhalten.
Zu großen Demonstrationen ist es auch am Donnerstag abend in verschiedenen Städten der DDR gekommen. In Rostock gingen 25.000 in Erfurt 15.000 und in Gera 5.000 Menschen auf die Straße, meldete die Nachrichtenagentur 'adn‘. In Dresden beteiligten sich über 100.000 an öffentlichen Debatten auf Straßen und Plätzen (siehe Bericht auf Seite 7).
Die DDR-CDU hat ein Grundsatzpapier „zu Gegenwart und Zukunft“ vorgelegt, in dem grundsätzliche Reformen gefordert werden. In dem Papier, das gestern in Ostberlin bekannt wurde, wird betont, die CDU sei eine „unabhängige und eigenständige Partei“.
Im DDR-Fernsehen verlas der Präsident der Akademie am Donnerstag eine Erklärung, die von einer außerordentlichen Vollversammlung bereits vergangene Woche verabschiedet worden war: „Endlich, um Jahre zu spät, die Erkenntnis, daß wir von der Sowjetunion die Umgestaltung lernen werden und müssen.“ Weiter wird vor der Anwendung von Gewalt gewarnt. Deshalb habe auch das Plenum der Akademie in einem offenen Brief an den Präsidenten der Volks Fortsetzung auf Seite 2
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kammer die sofortige Einsetzung einer Untersuchungskommission gefordert, die die Aufgabe habe, „zur öffentlichen Aufklärung von „Übergriffen gegenüber Demonstranten und Unbeteiligten durch Sicherheitskräfte“ beizutragen. Es müßten „ganz bestimmte Dinge“ jetzt „überhaupt erst an die Öffentlichkeit“. Dazu gehöre, den ehemaligen Leiter des Aufbau-Verlages in der DDR, „den hochgeachteten Walter Janka, Spanienkämpfer, Kommunist seit 1930, der 1957 in einem ideologischen Schauprozeß zu Unrecht zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, nun öffentlich zu rehabilitieren und sein biographisches Buch bei uns zu drucken“. Dazu gehöre ferner „mit Nachdruck die Frage, ob die im Ok
tober 1988 gegen heftigste Proteste durchgesetzte Relegierung mehrerer Schüler der erweiterten Oberschule Carl -von-Ossietzky in Berlin-Pankow, die in bis dahin für unsere Schulen ungewöhnlicher Weise ihr Recht auf selbständige politische Meinungsäußerung an der Schülerwandzeitung wahrgenommen hatten und dafür bestraft wurden, nicht rückgängig gemacht werden sollte“. Zwei führende Mitglieder des Neuen Forums sind am Donnerstag mit Politbüromitglied Schabowski, dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, zusammengetroffen. Bei dem Gespräch ging es um die Demonstration am 4.November, um die Kommunalwahlen vom Juni und um den gesamtgesellschaftlichen Dialog. Schabowski deutete in dem Gespräch an, daß Wolf Biermann, der von Bärbel Bohley zu einer Teilnahme bei der Demonstration einge
laden worden war, am 4.11. nicht in die DDR hineingelassen werden würde. Zu der Frage, ob seiner Meinung nach das Neue Forum, wie noch vor wenigen Wochen vom DDR-Innenministerium behauptet, „verfassungsfeindlich“ sei, erklärte Schabowski, dafür sei er nicht zuständig. Die Journalisten der amtlichen DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘ haben am Freitag eine Meldung in eigener Sache verbreitet: Der Vorstand der Betriebsgruppe des Journalistenverbandes (VDJ) im 'adn‘ forderte ein Pressegesetz und eine Medienkonferenz. Der VDJ solle dazu die Initiative ergreifen. Die Journalisten „werden den landesweiten gesellschaftlichen Dialog für den Sozialismus in seiner Vielfalt und Konstruktivität darstellen und fördern und so ihren Beitrag dafür leisten, daß die mit der eingeleiteten Wende verbundene radikale Erneuerung der Informationspolitik
für die Leser, Hörer und Zuschauer der Medien täglich spürbar wird“. Heftige Medienschelte hat der frühere Spionagechef Markus Wolf im 'Neuen Deutschland‘ geübt. In einem Interview sagte er: „Ich glaube, genau wie in der ganzen Partei nahmen der Unmut und die Kritik an den Medien und auch am Zentralorgan immer mehr zu.“ „Ich habe mich in meinem Leben - glaube ich - noch nie so geschämt wie an dem Tag, an dem in den Medien zu lesen war: 'Wir sollten den Menschen, die uns verlassen haben, keine Träne nachweinen.‘ (...) Dazu muß die Redaktion meiner Ansicht nach ihr Wort sagen.“ 170 Flüchtlinge in Prag haben gestern die bundesdeutsche Botschaft mit Bussen in Richtung Westen verlassen. Über Ungarn sind bis Freitag wieder 587 Flüchtlinge in Bayern eingetroffen. In Warschau warten noch etwa 1.800 DDR-Bürger auf ihre Ausreise.
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