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DIE KARTOFFELESSER

■ Ein Film nach Briefen van Goghs in der Filmbühne

Vor den Ruinen einer aufgegebenen Zeche in der Borinage (Belgien) beschreibt ein alter Gewerkschaftler die Agonie dieser belgischen Landschaft. Nach der Stillegung aller Zechen blieb denen, die seit Generationen unter schlechten Arbeitsbedingungen in die gefürchteten Gruben einfuhren, nur die Arbeitslosigkeit. Von der gesellschaftlichen Mißachtung ihren schweren und gefährlichen Arbeit glitten sie in das Elend der Unproduktivität. Geblieben ist eine durch Gruben und Halden zerstörte und mit Industrieruinen übersäte Landschaft, geblieben sind die Bergarbeitersiedlungen, endlose Backsteinhäuserketten entlang der Straßen. In diese Tristesse reiste ein Filmteam, im Gepäck die Briefe des Malers van Gogh, der vor über einem Jahrhundert als Laienprediger in das Kohlerevier gezogen war und die rußigen Grubenarbeiter zeichnete. Aus den Briefen des Malers, der, durchdrungen von einem strengen protestantischen Arbeitsethos, darunter litt, als Nichtstuer vermeintlich verachtet zu sein, entsteht ein wieder aktueller Kommentar zu den Filmbildern von den endlosen Nachmittagen und Abenden der Arbeitslosen in einer Kneipe, in der nur die Neonreklame strahlt und nichts als der ewig um einen kleinen Platz kreisende Autoverkehr zu beobachten ist. Bild und Text berühren sich über die große zeitliche Distanz hinweg in der Darstellung des Elends der verweigerten Selbstverwirklichung. Der Maler beklagte seine physische und psychische Not, in der ihm alles fehlte, um produktiv zu werden. Er fühlte sich im Nichtstun wider Willen wie in einem Käfig gefangen.

„Der Weg nach Courrieres“ von Christoph Hübner und Gabriele Voss versucht keine der üblichen Annäherungen an das Werk eines Künstlers. Die Bilder des Films sind immer auf die Gegenwart bezogen, nie bemüht um historische Rekonstruktionen. Doch gerade die Konsequenz, mit der sich die Filmemacher an den unspektakulären Alltag halten, rückt sie in die Nähe zu der Suche des Malers nach einem modernen Realismus. Van Goghs Entdeckung der Entfaltung der Schönheit des Menschen in seiner Arbeit wird auch zum Bekenntnis der Dokumentarfilmer. Zugleich aber bleibt die Distanz zu der Zeit van Goghs und die Veränderung der Lebensformen schmerzlich bewußt und verhindert jede falsche und heroische Verklärung. Drei Orte besuchten Christoph Hübner und Gabriele Voss, an denen der Maler gelebt und die er in seinen Briefen beschrieben hat: In der Borinage ist die Armut geblieben, nur unter veränderten Bedingungen. In Nuenen, in seiner Heimat Holland, galt van Goghs ganzes Interesse und Mitgefühl dem Leben der Weber und Bauern. In seinem Bild von den Kartoffelessern sollte die Hand eines Bauern für jeden sichtbar die gleiche Hand sein, die auch die Feldfrüchte gesät und geerntet hatte. Im Film sehen wir die Hand eines Bauern an der Melkmaschine in der heute nach industriellen Maßstäben entwickelten Landwirtschaft.

Die eintönige und arme Heide- und Moorprovinz Drenthe erlebte der Maler in einer visuellen Intensität, die heute nicht mehr möglich erscheint: Zwischen Erde und Himmel nur die Stille. Im Film fressen Moorfräsen die letzten Reste der furchtbar schönen Wüste weg. Wie van Gogh noch sehen konnte, ist im Zeitalter der visuellen Medien nicht mehr einlösbar. Die Inflation der Bildern hat die Fähigkeiten des Staunens und der Kontemplation vernichtet.

Die Filmemacher kommen an den Stationen von van Goghs Leben mit wenigen Einstellungen und langen Kamerafahrten aus und versuchen so eine Annäherung an die Kargheit seiner Ästhetik. Auf Besuche der Disco „van Gogh“ in Nuenen und der kleinen van-Gogh-Museen in Belgien und Holland verzichten sie. Nur zwei Filmsequenzen thematisieren den Ausverkauf der Bilder: der Postkartenverkauf an einer Museumskasse und die Versteigerung von van Goghs „Sonnenblumen“ bei Christie's in London. Handeln hat das Hinsehen und Verstehen ersetzt.

Katrin Bettina Müller

„Der Weg nach Courrieres“, täglich um 19 Uhr in der Filmbühne am Steinplatz bis zum 13. November.

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