: Wohin mit Mitterrands Kurden?
300 irakische Kurden warten in französischem Militärcamp / Herbstmanöver zwingen zum Aufbruch ■ Von Dagmar Brocksin
Mehmed S. sitzt während der Fahrt sehr still. Auf den Knien hält er eine Plastiktüte voller Bonbons: „Für die Kinder.“ Er ist türkischer Kurde. Er weiß, daß er die irakischen Kurden, zu denen wir fahren, nicht verstehen wird. Dennoch fühlt er sich ihnen zugehörig und hat deshalb auf diesen Besuch gedrängt: „Ehe es zu spät ist...“ Mehmed S. ist 34 Jahre alt, gelernter Maurer, arbeitslos und lebt seit sechs Jahren, als politischer Flüchtling anerkannt, in Limoges. Die winzige Wohnung in einem der Türme des sozialen Wohnungsbaus am Rande der Stadt bewohnt er allein. Außer ihm leben nur weitere fünf Kurden in der zentralfranzösischen Stadt.
Die Fahrt führt durch die Correze, die „Chiraquie“ Herrschaftsgebiet des rechten Jacques Chirac - in die Region Puy-de-Dome, die „Giscardie“ - Königreich des Schloßherrn und ehemaligen Präsidenten Giscard d'Estaing. Wir sind im Zentralmassiv, in der Auvergne, deren Bewohner von Georges Brassens einst als so gastfreundlich besungen wurden.
Leider hatten die 300 Kurden aus dem Irak bisher noch keine Gelegenheit, diese lyrische Gastfreundschaft auszukosten. Seit zwei Monaten hausen sie auf dem Militärgelände von Bourg Lastic, abgelegen im Wald versteckt. Abgestellte Panzer weisen den Weg zu den langgestreckten Betonbaracken.
Hier in den großen Schlafsälen leben sie, seit Madame Mitterrand und ihre humanitäre Organisation „France Liberte“ sie aus dem türkischen Flüchtlingslager Mardin nach Frankreich geholt haben. Der Himmel ist blau, doch fegt schon ein eisiger Herbstwind über das Gelände. Zwischen den Baracken hocken die Frauen im Kreise, in ihren leuchtenden Schleiern erinnern sie an bunte Blumen. Bräunliche Kinder laufen umher, und dann erscheint ernst die Gruppe der Männer mit Turbanen und weiten Hosen. Sie reichen die Hand: „Bonjour!“ Meist ihr einziges französisches Wort. Sie umarmen Mehmed.
Um den Tisch versammelt, reden sie vor allem von Vergangenem, den Giftgasangriffen auf ihre Dörfer, der Flucht über die türkische Grenze, den Monaten hinter Stacheldraht im Militärcamp von Mardin, dem mörderischen Winter, dem Massensterben der Kinder und der rätselhaften Massenvergiftung kurz vor ihrem Abtransport. Damals machte Madame Daniele Mitterrand gerade ihren ganz inoffiziellen Spontanbesuch in den Lagern. „Da haben wir ihr einen Brief geschrieben und sie gebeten, uns Asyl in Frankreich zu geben. Wir sind sechsundvierzig Familien mit hundertsechzig Kindern, alle aus denselben zwei Orten. Unsere Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, die Überlebenden irgendwohin deportiert. Wir wollten zusammenbleiben.“
Ob sie denn kein Mißtrauen gegen den französischen Staat gehabt hätten? Immerhin sei der es gewesen, der die das Gas abwerfenden Kampfflugzeuge „Mirage“ und sogar teilweise die Piloten dazu geliefert habe? Illusionsloses Lächeln. „In Frankreich kann man uns nicht so ohne weiteres ermorden.“ Trotzdem erzählt Julia, die freiwillige italienische Helferin, daß sich die Neuankömmlinge geweigert hätten, das Mineralwasser aus Flaschen zu trinken: Angst vor Vergiftung. Auch die Teilnahme deutscher Firmen (u.a. Kolb und Pilot Plant) an der Herstellung der Giftgase ist ihnen bekannt, und trotzdem fragen sie: „Warum tut die bundesdeutsche Regierung nichts für uns? Warum keine Regierung? Der nächste Winter naht und damit wieder ein Massensterben in den Lagern.“
Die Diskussion kreist immer wieder um „die anderen da unten“. Fragt man sie indes nach ihrer eigenen näheren Zukunft, verliert sich das Gespräch in Vermutungen. „Man hat uns versprochen, daß wir zusammenbleiben können. Aber wie? Es hieß, man werde uns Brachland zur Verfügung stellen zum Bestellen, es gebe hier so viel davon, und wir sind ja fast alle Bauern. Aber von den vielen angesprochenen Gemeinden haben nur drei sich bereit erklärt, einige von uns aufzunehmen. Die meisten Gemeinderäte weigern sich. Wir haben uns auch das Land hier angesehen; die Erde ist ganz anders als bei uns. Viele unserer Jungen möchten jetzt lieber ein Bauhandwerk lernen. Ist das möglich? Und wo? Wissen wir alles nicht. Drei Familien können vielleicht nach Clermont-Ferrand. Was wird mit den anderen?“ Schweigen.
Doch die Zeit drängt. In Kürze wird das 82.Infanterie -Regiment zum Herbstmanöver anrücken, dann müssen die Baracken geräumt werden. Die Reise ins Unbekannte wird weitergehen. Denn bisher beschränkt sich der Kontakt mit Frankreich auf die seltener gewordenen Journalistenbesuche und ein paar Ausflüge nach Clermont-Ferrand. Und auf das Tag und Nacht laufende Fernsehen. „Besonders die Frauen waren neugierig, suchten den Kontakt“, sagt Julia. „Am Anfang war hier alle Tage Tanz und Gesang. Mittlerweile sind alle stiller geworden. In Clermont sind auch ein paar 'Kurden raus!'-Inschriften aufgetaucht.“
Ihr Alptraum: Zerstreut, getrennt zu werden für immer. „Irgendwann wollen wir alle wieder zurück, wir wollen zusammen leben, wir haben die gleichen Rechte wie andere Völker auch.“
Auf der Heimfahrt träumt Mehmed einen Moment laut davon, die dreihundert Kurden als Nachbarn in den leeren Wohnungen der Sozialtürme am Stadtrand von Limoges unterzubringen. „So würden wir zusammenbleiben.“ Dann schweigt er verstört.
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