: Zynisch-betr.: Gastkommentar von Norman Birnbaum, taz vom 7.11.89
betr.: Gastkommentar von Norman Birnbaum, taz vom 7.11.89
Soso, die deutsche Frage ist also wieder mal offen. Trotz der Jahreszahlen 1914 und 1939. Warum nennt euer Gastkommentator das Kind eigentlich nicht beim Namen? Es handelt sich hierbei nicht um harmlose Jahreszahlen, sondern um die Entfesselung zweier Weltkriege eben durch ein (!) deutsches Reich, an deren Folgen heute noch einige Staaten zu leiden haben. In diesem Zusammenhang finde ich es einigermaßen schockierend, wenn Norman Birnbaum der amerikanischen Öffentlichkeit empfiehlt, „sich dämonischer Bilder von einer Wiedergeburt des Nationalsozialismus“ zu entledigen. Vermutlich profitierte Herr Birnbaum von einer näheren Beschäftigung mit der aktuellen innenpolitischen Lage in der BRD, wo erneut eine faschistische Partei hoffähig gemacht wird.
Zynisch nennt es euer Kommentator, wenn Politiker es vorziehen, großdeutsche Vorstellungen „unter den Tisch fallen zu lassen“. Zynisch ist es, wenn derartige Vorstellungen nicht bekämpft werden, sondern auch noch in der taz Verbreitung finden. Weiter ist es zynisch, wenn bundesdeutsche Bundeskanzler sich als Lehrmeister in Sachen Demokratie aufspielen und Kredite nur nach Ablieferung der Schulaufgaben ( Reformen) vergeben. Was wird denn schon bezweckt mit den in bundesrepublikanischen Regierungskreisen gewünschten „Reformen“? Schlicht und ergreifend der Ausbau wirtschaftlicher Macht.
Stimmt, in diesem Zusammenhang drückt sich Genscher schon schlauer aus. Es geht da nicht mehr um die bloße „Wiedervereinigung“, sondern um das „europäische Haus“. Klingt auch viel moderater und ist gleichzeitig wesentlich tiefgreifender. Ungarn macht es vor, Polen macht es nach, und auch für die DDR wird sich noch eine Kellerwohnung in diesem „europäischen Haus“ finden.
Wirtschaftshilfe der BRD diente noch nie dazu, der Wirtschaft anderer Staaten zu helfen, sondern vor allem, um für die eigene Wirtschaft neue Absatzmärkte zu erobern und zu sichern. (...)
Auf diesem Weg kann die BRD ihre ohnehin vorhandene Vormachtstellung innerhalb Europas sichern und noch weiter ausbauen. Nun kann endlich am deutschen Wesen die Welt genesen. Soll noch eine(r) sagen, es gäbe keine Kontinuität in der deutschen Geschichte. Es graut mir.
Gabi Geringer, Berlin
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