: Bonn: Ein Volk! Ein Bund! Ein Kohl! DDR-Bürger gegen Vereinnahmung
■ Während sich im Bonner Bundestag eine große Koalition begeistert zum Kohl-Plan einer Föderation mit der DDR mit dem Endziel „Wiedervereinigung“ äußert, werben prominente DDR-BürgerInnen für eine „sozialistische Alternative“ zur Bundesrepublik
Bonn/Ost-Berlin (taz) - Deutsch-deutsche Konföderation mit dem letztendlichen Ziel einer nationalen Einheit oder ein eigenständiger Staat DDR als sozialistische Alternative zur Bundesrepublik - erstmals seit Öffnung der Mauer prallten gestern zwei Seiten gegeneinander, die sich bislang im Kampf gegen die SED einig waren. Während Kohl unter dem Beifall aller Abgeordneten außer den Grünen im Bundestag einen Zehnstufenplan zur Deutschlandpolitik vorlegte, dessen zentraler Punkt eine konföderative Strktur zwischen beiden deutschen Staaten mit dem Ziel „einer bundesstaatlichen Ordnung in ganz Deutschland“ vorsieht, präsentierten prominente Vertreter der DDR-Opposition in Ost-Berlin einen Appell an ihre Landsleute für einen eigenständigen Weg der DDR zu einer solidarischen Gesellschaft (siehe ausführlich Seite 3).
Bereits zu Beginn der Debatte im Bundestag hatte SPD-Chef Vogel im Vorgriff auf die Kohl-Rede die Idee der Konföderation eingeführt. Spätestens mit der „Einheit und Freiheit Europas“, so Vogel, „solle im Einklang mit dem Helsinki-Prozeß die Einheit und Freiheit Deutschlands“ vollendet werden. Auf dem Weg dahin sollten beide deutsche Staaten als Konföderation darauf hinarbeiten, einheitliche Lebensverhältnisse in beiden Staaten herzustellen.
Kohl wurde noch konkreter: Unter der Voraussetzung, daß in der DDR freie Wahlen eine demokratisch legitimierte Regierung hervorgebracht hätte, könne man einen gemeinsamen Regierungsausschuß, gemeinsame Fachausschüsse und ein gemeinsames parlamentarisches Gremium bilden, mit dem Ziel, eine bundesstaatliche Ordnung zu schaffen, die an die „Kontinuität der deutschen Geschichte“ anknüpfen könne. „Staatliche Organisation in Deutschland hieß immer Konföderation und Föderation“, so der gelernte Historiker im Kanzleramt.
Als Sprecher der SPD signalisierte Karsten Voigt volle Zustimmung zu Kohls Zehnpunkteplan. Voigt gab lediglich zu bedenken, daß dieses Konzept mit Nato und Warschauer Pakt nicht zu machen sei: „Wer heute die staatliche Einheit der Deutschen auf die Tagesordnung setzt, muß auch bereit sein, die Zugehörigkeit zu den Bündnissen auf die Tagesordnung zu setzen.“
Als einsame Rufer gegen die Einheit der Nation blieben in Bonn nur noch die Grünen. Es gäbe „keinen vernüftigen Grund für die Wiedervereinigung“ 'sagte Jutta Oesterle-Schwerin. Antje Vollmer ergänzte, die Rechnung Kohls sei ohne den „Eigensinn der DDR“ gemacht.
Dieser Eigensinn äußerte sich gestern in Ost-Berlin. In einer Pressekonferenz stellte Stefan Heym einen Appell an seine Landsleute vor, in dem er und weitere prominente VertreterInnen aus Kultur und Politik dazu aufrufen, jetzt nicht zum großen Bruder in der BRD überzulaufen. „Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. Wir rufen alle Bürger auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen“. Nach den Parolen „Wir wollen raus“ und „Wir bleiben hier“ jetzt also die Forderung „Laßt uns in Ruhe!“
FDP-Chef Lambsdorff sprach gestern als einziger aus, worum es im wesentlichen geht: Der Wahlkampf in der BRD und in der DDR hat begonnen.
JG Siehe Tagesthema Seite 2 und 3
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