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Auch in Bulgarien weichen die KP-Dinosaurier

Die KP serviert in einer zweiten Aufräumaktion auch die letzten Mitglieder der alten Garde in der Parteispitze ab / Der Opposition soll der Wind aus den Segeln genommen werden / Hunderttausend demonstrierten gestern in Sofia für Demokratie und den „runden Tisch“  ■  Aus Bukarest Erhart Stölting

Schon vor 12 Uhr strömten gestern bei Nieselwetter und Schneematsch die Massen auf den großen Platz vor der Alexander-Meskynewski-Kathedrale in Sofia. Die Transparente forderten den „runden Tisch“, das osteuropäische Lieblingsmöbel, und die Herstellung von Demokratie. Andere Plakate lauteten: „Die Dinosaurier gehen, wir sind die Krokodile.“ Als die Kundgebung um 13 Uhr begann, war die Menschenmenge unabsehbar. Aufgerufen hatte die „Union für Demokratie“, Dachorganisation und Koordinationsgremium unterschiedlicher informeller Organisationen unter dem Vorsitz von Shelo Shelew.

Mit dieser Kundgebung wollten die „Unabhängigen“ auf das heute, also Montag beginnende Zk-Plenum Druck ausüben. Ihre Forderungen, im wesentlichen vom „Club für Glasnost und Demokratie“ formuliert: Die Trennung von Staat und Partei, die Gewaltenteilung, die Abschaffung des Artikels 1 der Verfassung, der die Führungsrolle der KP festschreibt, die Abschaffung der Nomenklatur, die Entpolitisierung von Armee und Polizei, die Übertragung der politischen Macht auf den Staat und eine neue Verfassung. Weitere Forderungen der vereinigten Opposition: Presse-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit, die Abschaffung des Artikels 108, aufgrund dessen viele Oppositionelle verfolgt wurden, die Herstellung einer Marktwirtschaft mit Rechtsgleichheit für staatliches, genossenschaftliches und privates Eigentum. Und nicht zuletzt wollen sie die Reform der Landwirtschaft.

Einiges wird leicht zu erfüllen sein, wie die Streichung des Artikels 1 der Verfassung. Den gibt es in dieser Form sowieso erst seit 1971.

Teile der Opposition vermuten, daß die Partei vieles dransetzen wird, um an der Macht zu bleiben. So wird sie möglicherweise vorgezogene Wahlen beschließen, bevor die Opposition in der Lage ist, ihre eigenen Parteigründungen und Initiativen organisatorisch vorzubereiten. Auch die Partei steht angesichts der Massenbewegung jedoch unter Zeitdruck.

Noch ehe das mit Spannung erwartete ZK-Plenum der BKP richtig begonnen hat, sind die Personalentscheidungen schon gefallen. Durch einen neuerlichen personellen Austausch in den Führungsgremien soll Vertrauen und neues Parteiimage geschaffen werden. Einen ersten umfangreichen Personalwechsel hatte es Mitte November gegeben, als der langjährige Bulgarienchef Shiwkow gehen mußte. Jetzt traf es „auf eigenen Wunsch“ die Politbüromitglieder Ivan Panew, Jordan Jolow, Natscho Papasow, Patscho Kubadinski und die Politbürokandidaten Georgi Jordanow und Grigor Stoitschkow. Neu rückten ins Politbüro Alexander Lilow, der von 1974 bis 1983 dem erlauchten Gremium angehört hatte und dann an die Spitze des Instituts für zeitgenössische Sozialtheorie abgeschoben wurde. Er gilt als heller Kopf. Neu ins Politbüro kommt auch der Finanzexperte Baltscho Baltschew, der 1988 seinen Posten als Finanzminister verloren hatte, und die Politbürokandidaten Ivan Ivanow, Petko Petkow und der ZK-Sekretär Dimo Usunow.

Mit diesem Personal will die Partei auf dem bulgarischen Weg der Perestroika weitergehen, deren Ziel der „wahre Sozialismus“ sein soll. Danach soll es eine Trennung von Staat und Partei, einen Pluralismus der Meinungen „und auch sonst“ einen Rechtsstaat ohne „Kommandowirtschaft“ geben. Die Unterschiede zur Opposition sind auf der Ebene der Zielvorstellungen nicht groß. Die Strukturen, die diese Ziele ermöglichen können, sind jedoch noch nicht recht erkennbar. Praktisch hält die Partei noch alle Zügel in der Hand. Die neugegründete „Bulgarische Sozialistische Arbeiterpartei“, die sich auf ihrem sozialdemokratischen Namensvorläufer beruft, der 1948 verboten wurde, ist bislang kaum präsent. Sie wirbt für sich durch mit Kohlepapier vervielfältigte Din-A4-Blätter, die an vielen Stellen der Stadt hängen. Eine Flut von Flugblättern ist bei den technischen Möglichkeiten in Bulgarien nicht zu erwarten.

Die Opposotion formiert sich

Immerhin hat sich seit dem 10 November das politische Klima radikal geändert. Hat es bis dahin nur 4 unabhängige Gruppen, den „KLub für Glasnost und Perestroika“ (jetzt für „Glasnost und Demokratie“), die Gruppe Eko-Glasnost, die Unterstützergruppe für unabhängige Gewerkschaften Podkrepa und das „Komitee zur Verteidigung religiöser Rechte, der Freiheit des Gewissens und der geistigen Werte“ - eine demokratisch, nationalische, religiöse Gruppierung - so entstehen seit einem Monat ständig neue Gruppen, bis heute etwa 50. Neu ist zum Beispiel eine „Unabhängige Studentische Gemeinschaft“, die nach einigen Zusammenschlüssen nun vom Komsomol umworben wird; auch ihn hat der Perestroikawind erfaßt. All diese Entwicklungen finden in einem Klima statt, in dem niemand mehr sich bei politischen Gesprächen vorsichtig umschaut und keine Scheu mehr vor Ausländern hat.

Schließlich ist der berüchtigte Artikel 273, der Meinungs„verbrechen“ unter Strafe stellte, schon gestrichen, und reisen können die Bulgaren auch, wohin sie wollen, sofern sie Devisen haben. Viele oppositionelle Geister sind noch mißtrauisch. „Die Partei läßt diskutieren“ heißt es zum neuen Glasnost in der Presse, im Fernsehen und Rundfunk. Die wirklichen Probleme würden benannt, aber der alten Führung unter Schiwkow in die Schuhe geschoben, eine Strukturanalyse stehe noch aus. Der prominente Vertreter vom „Club für Glasnost und Demokratie“, Professor Nikulow, der früher dem ZK angehört hatte, nannte diese Situation unbefriedigend, ein „Halb-Glasnost“. Auf der anderen Seite hat auch die Opposition bisher kaum mehr als allgemeine Forderungen gestellt.

War die Opposition bislang vor allem eine Bewegung der Intelligenz, so scheinen nun auch weitere Kreise der Bevölkerung in Bewegung zu kommen. Sonntag, am späten Nachmittag, kam es in Sofia zu einem zweistündigen Streik der Bus- und Straßenbahnfahrer. Eine neu entstandene Schülerorganisation forderte die Entideologisierung des Schulwesens und veranstaltet eine Unterschriftensammlung, an der sich bisher ca. 1.500 beteiligten.

Ein Flop dagegen war die Kundgebung zweier Studentengruppen, die erstmals am Samstag öffentlich die Abschaffung des Sozialismus forderten. Das Oppositionsnetz wußte von dieser Kundgebung vorher nichts. Verwunderung erregte auch, daß die offiziellen Medien von 2.000 Demonstranten sprachen, anstatt von 200, die es wirklich waren. Es entstand der Verdacht, daß nun die Opposition als „antisozialistisch“ gebranntmarkt werde statt nur als „extremistisch“ wie bisher.

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