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Nationalismus

Zum Berliner Parteitag der SPD  ■ K O M M E N T A R E

Ist die SPD nun im nationalen Taumel? Die Überwindung der Spaltung Deutschlands sei „lebensnotwendig“ für das deutsche Volk - so stand es im Godesberger Programm von 1959. Auch wenn es im neuen Berliner Programm so nicht mehr steht: Viele in der Partei empfinden heute erst recht so. Da macht sich die alte Schule bemerkbar: Antikommunismus plus Wiedervereinigung - heute von der Propaganda zur Realpolitik avanciert.

Am Ziel der Wiedervereinigung, wie immer sie sozialdemokratisch genannt wird, durfte auf diesem Parteitag nicht gezweifelt werden. Die Versammlungsmehrheit und die Parteiführung verwahrten sich sogar dagegen, in der Deutschland-Resolution die „bundesstaatliche Einheit“ wenigstens mit einem zögernden vielleicht„ zu versehen. Diese Abstimmung war grotesk, aber auch symbolträchtig. Mit Opportunismus gegenüber den Konservativen kann dies nicht mehr erklärt werden: Da muß man die Sozialdemokraten schon ernster nehmen.

Und Willy Brandt, der allseits Gefeierte? Er hat in seiner Parteitagsrede die Grenze des Nationalen, schon Nationalistischen, so weit ausgereizt, wie es heute kein Helmut Kohl tun könnte, ohne einen Aufschrei auszulösen. Wie sonst ist Willy Brandts Warnung an die westlichen Verbündeten und die Sowjetunion zu verstehen: nämlich „uns nicht über Gebühr diplomatischen Finessen auszusetzen, die geeignet wären, die deutsche Szene mit nationalistischen Reaktionen zu belasten“. Deutscher Nationalismus als Reaktion auf ein mißgünstiges Ausland? Das ist ein altes Strickmuster - bekannt aus der Geschichte - die Weimarer Republik bezog ihre politische Dynamik weitgehend von dem Bild „Alle gegen uns, wir gegen alle“.

Der Parteitag hat diese Töne nicht bejubelt, aber sie zustimmend toleriert - sie kommen ja von Willy Brandt, und der darf das. Aber Willy Brandt spricht ja nicht nur für sich, sondern erklärtermaßen im Namen „der Deutschen“. Und in deren Namen hat er eine Bresche geschlagen: Deutschland kann nun aus dem Schatten des verlorenen Kriegs heraustreten, die Karten werden neu verteilt, die historische Schuld ist kein Argument mehr gegen ein neues großes Deutschland.

Der beklemmende Eindruck, daß nun gerade Sozialdemokraten diese Tabus niedergerissen haben, läßt sich auch durch den gestrigen Tag nicht auslöschen. Hin- und hergerissen von widerstreitenden Emotionen applaudierten die Delegierten nun dem Appell Oskar Lafontaines, die soziale Frage über die nationale zu stellen. Vielleicht war dieser Beifall Ausdruck des faden Nachgeschmacks, den manche von der Deutschland -Debatte behalten hatten. Vielleicht zeigt er auch nur, wie wenig ein Parteitag als Stimmungsbarometer verläßlich ist.

Und die SPD-Linken? Konfliktscheu wie sie sind, vermieden sie weitgehend die Kritik am neuen nationalen Pathos ihrer Partei. Lieber erschöpfte man die Kräfte auf einer Spielwiese: dem Parteitag ein paar Sätze mehr zum Thema Konföderation abzutrotzen - auf daß die DDR noch ein wenig souverän bleibe, leider ohne eine Staatsangehörigkeit von sozialdemokratischen Gnaden.

Charlotte Wiedemann

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