: Die Strahlengefahr aus der Milchpackung
Allgäuer Amtsgericht verhandelt ab heute über verstrahltes Milchpulver, das als strahlenfrei verkauft wurde / Bayerischer Umweltminister wollte Gutachter stoppen ■ Aus Kempten Klaus Wittmann
Der Fall, der ab heute vor dem Amtsgericht Kempten verhandelt wird, ist längst zum Politikum geworden und steckt voller Merkwürdigkeiten. Nicht nur besorgte Eltern, AKW-Gegner und namhafte Professoren richten ihren Blick nach Kempten, sondern auch bayerische Ministerien, die im Vorfeld dieses Prozesses offenbar nur ein Ziel hatten: ein solches Verfahren zu verhindern.
Begonnen hat alles damit, daß besorgte Eltern nach dem Atomunfall in Tschernobyl von verstrahlter Frischmilch auf angeblich unverstrahltes Milchpulver umgestellt hatten. Etlichen Trockenmilchprodukten der Oberallgäuer Firma Töpfer, Deutschlands ältestem Hersteller für Kindernahrung, waren Beipackzettel beigefügt, daß die Produkte „vor Tschernobyl hergestellt“ worden seien. Genau das hat sich allerdings als falsch erwiesen. Kritische Eltern ließen auf eigene Faust Strahlenmessungen durchführen und trauten ihren Augen nicht: Strahlenwerte von rund 3.000 Becquerel pro Kilogramm Buttermilchpulver. Das wollten sich die betroffenen Eltern nicht gefallen lassen. Einige erstatteten Anzeige wegen Verkaufs von gesundheitsschädlichen Lebensmitteln und deren falscher Bezeichnung.
Die Staatsanwaltschaft in Kempten leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen vier leitende Herren der Firma Töpfer ein und gab dem renommierten Zellbiologen Professor Dr. Roland Scholz in München den Auftrag, ein Gutachten zu erstellen. Darin sollte der Wissenschaftler unter anderem klären, ob das verstrahlte Buttermilchpulver die Gesundheit der Verbraucher schädigen könne oder nicht.
Das Ergebnis war ein Schlag ins Gesicht all derer, die die Folgen von Atomunfällen, insbesondere nach Tschernobyl, weiter verharmlost haben. Auf knapp 40 Seiten begründet Scholz ausführlich, daß „die Kontamination (des Buttermilchpulvers; d.Red.) geeignet ist, die Gesundheit von Konsumenten, insbesondere von Kleinkindern, zu schädigen“.
Wer nun freilich glauben mochte, das Gutachten hätte zur Eröffnung der Hauptverhandlung genügt, wurde schnell eines anderen belehrt. Die Staatsanwaltschaft holte zunächst noch ein Ergänzungsgutachten von Professor Scholz ein. Obwohl der umgehend auf weiteren siebzehn Seiten seine Argumente präzisierte, kam es zur vorläufigen Einstellung des Verfahrens. Der Grund: Ausgerechnet der Leiter der Abteilung 7 „Atomenergie“ im bayerischen Umweltministerium hatte das Scholz-Gutachten in Zweifel gezogen. Mit Bemerkungen wie: „Das verstrahlte Buttermilchpulver ist sicher ein Nahrungsmittel geringer Bedeutung“, spielte Ministerialdirigent Dr. Josef Vogl den Vorgang herunter. Wenig später wurde der Hauptanklagepunkt vorläufig eingestellt. Verhandelt wird jetzt nur noch wegen „Inverkehrbringens von falsch deklarierten Lebensmitteln“, und das auch nur, weil ein Kemptener Amtsrichter sich geweigert hat, das Verfahren ohne Hauptverhandlung mit einem Strafbefehl abzuhandeln.
Der Allgäuer SPD-Abgeordnete Günter Wirth, selbst Jurist und Vorsitzender des Rechtsausschusses im bayerischen Landtag, hat die „politische Einflußnahme auf die Justiz“ scharf attackiert. „Natürlich war Umweltminister Alfred Dick nicht daran interessiert, daß ein unabhängiges Gericht per Urteil feststellt, daß verstrahltes Milchpulver gesundheitsgefährdend ist. Er hätte sich ja sonst das Löffeln von verstrahltem Molkepulver sparen können“, wettert der Abgeordnete.
Ihm will nicht einleuchten, daß erst zwei Gutachten in Auftrag gegeben werden, die klären sollen, ob verstrahlte Lebensmittel gefährlich sind, und dann, wenn sich der Anfangsverdacht bestätigt, das Verfahren kurzerhand eingestellt wird. In der Antwort auf zwei parlamentarische Anfragen wird Wirth beschieden, daß die Frage des Gesundheitsrisikos „einstweilen noch nicht sicher beantwortet werden könne“ und daß darüber hinaus das Scholz -Gutachten in Frage gestellt werde.
An dieser Stelle tritt jetzt allerdings völlig unerwartet der bekannte Strahlenbiologe Professor Dr. Edmund Lengfelder auf den Plan. Lengfelder, der lange Zeit in CSU-Kreisen als „die Strahlenforscherkapazität schlechthin“ galt, schlägt aber voll in die Kerbe seines Kollegen Scholz. Unmißverständlich macht er deutlich, was er von der Stellungnahme des Ministerialdirigenten Vogl zum Scholz -Gutachten hält: „Ich finde, das Gutachten von Dr. Vogl ist nicht geeignet, das Gutachten von Professor Scholz zu entkräften.“ Vogl sei selbst kein Wissenschaftler, sondern ein hoher Ministerialbeamter, der ganz nach der Art seines Ministers für die Nutzung der Kernenergie eintrete und aus dieser subjektiven Sicht heraus seine Stellungnahme verfaßt habe. Das ist deutlich.
Als absurd bezeichnet Lengfelder auch die Antwort der Staatsregierung auf die Wirth-Anfrage, daß die Folgen einer Strahlenbelastung nicht genügend erforscht seien. Jede Strahlenbelastung erhöhe das Risiko, an Krebs zu erkranken. Das sei durch Langzeitstudien längst belegt. Bei der ganzen Grenzwertdiskussion, so Lengfelder, müsse doch gesehen werden, daß es hier um eine kühle Rechnung gehe, bei der die Gesundheit oder der Tod in Beziehung zu den Kosten gesetzt würden.
„Ich sehe das Risiko der Kernenergie gerade in bezug auf große Unfälle für so groß an, daß wir uns überlegen müssen, wie viele dieser Unfälle wir noch brauchen, bis wir von dieser Technologie abkehren“, sagt Lengfelder, der damit noch weit über die Bewertungen von Professor Scholz hinausgeht. Der Prozeß kann spannend werden...
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