piwik no script img

„Die Welt jubelt - wir nicht“

In Israel beherrscht Angst die Debatte um eine mögliche „Wiedervereinigung Deutschlands“, Angst vor einem neuen Nationalismus und dem Vergessen des Holocaust / Schwierigkeiten auch im Verhältnis zur DDR  ■  Aus Jerusalem K. Hillenbrand

„Natürlich freue ich mich, daß die Mauer gefallen ist. Nur schade, daß sie nicht auf sie drauf gefallen ist.“ Der Mann, der diese Meinung einem Interviewer der Zeitung 'Maariv‘ zu Protokoll gab, mag vielleicht nicht die Mehrheitsmeinung in Israel repräsentieren. Doch kaum jemand in Tel Aviv oder Jerusalem will in den Jubel und die Begeisterung um die Öffnug der Grenzen zwischen der BRD und der DDR mit einstimmen. „Es ist wichtig, daß Deutschland geteilt bleibt“, so Geshom Schocken von der liberalen 'Haaretz‘.

Die Mauer in Berlin stand in Israel nicht nur als Symbol der Ost-West-Konfrontation und des kalten Krieges. Im Staat der Überlebenden des Holocaust wurde sie von vielen auch als eine Art „gerechte Strafe“ für die deutschen Massenmörder empfunden. Weil die Aburteilung der Verbrecher verschleppt und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beschönigt wurde, weil der wirtschaftliche Wiederaufstieg in Deutschland-West unaufhaltsam war, wurde die hermetische Grenze in den Augen der Israelis zum Zeichen für die positiven Folgen des Zweiten Weltkriegs.

Jeder Jubel in deutschen Straßen muß in Israel einen faden Beigeschmack erhalten. Die Angst vor Deutschland sitzt tief, und deutschnationale Begeisterung hat es schließlich vor 50 Jahren schon einmal gegeben. „Rational ist das natürlich Unsinn“, meint Israel Gat von der Arbeiterpartei. „Aber beim Fall der Berliner Mauer überwiegen die Emotionen. Da mögen Deutschland-Experten, Historiker oder der bundesdeutsche Botschafter in Tel Aviv, Wilhelm Haas, wieder und wieder auf die Unvergleichbarkeit von 1933 und 1989 hinweisen: Die Mehrheit der Israelis sieht die Fernsehbilder aus Berlin mit sehr gemischten Gefühlen. 'Maariv‘ schreibt: „Und wieder macht dieses Volk, was es will. Tausende junge Leute sitzen gemütlich auf der Mauer. Das Volk, das erst vor 50 Jahren ein Dracula war, ist plötzlich Ben Hur. Und die Welt jubelt. Wir nicht. Denn wir kennen sie ja.“

Angst vor deutscher Großmacht

Für die Kommentatoren ist die Wieder-/Neuvereinigung von BRD und DDR seit dem 9.November beschlossene Sache. Daran ändern kann Israel nichts. Und so rückt in den Mittelpunkt der Diskussion, ob sich die deutsche Volksseele in den vergangenen 50 Jahren zum Besseren gekehrt hat. Wird ein vereinigtes Deutschland tatsächlich „nicht weniger Appetit haben als Hitler-Deutschland?“ wie Shmul Schnitzer schreibt? Wie tief sitzt der Nazismus in der DDR, deren Bewohner sich niemals persönlich mit dem Faschismus auseinandersetzen mußten, hatte ihr Staat doch laut Eigendefinition nichts mit der Vergangenheit gemein? Bedeutet die gemeinsame Wirtschaftskraft von BRD und DDR eine Gefahr für Europa und die Welt? Auf diese Fragen lassen sich naturgemäß keine rational schlüssigen Antworten finden, nur Vermutungen. Israelische Historiker verweisen auf einen radikalen Bruch in der deutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Wohl kein Volk der Welt habe sich in den letzten Jahren so sehr verändert, so der Deutschland-Experte Zimmermann. Doch manche Kommentatoren nehmen den Deutschen diesen radikalen Wandel nicht ab, bezweifeln, daß ein Volk in so kurzer Zeit „gewendet“ sein könnte.

Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung hält sich die Regierung in der Beurteilung der Situation zurück. Zu keinem europäischen Land unterhält Israel bessere Beziehungen als zur Bundesrepublik, heißt es. Solange eine deutsche Annäherung unter dem Dach eines gemeinsamen Europas geschehe, so die Meinung in Regierungskreisen, habe man damit keine schwerwiegenden Probleme. Schwieriger ist da schon das Verhältnis zur DDR, mit der Israel zu keinem Zeitpunkt diplomatische Beziehungen unterhalten hat. Wenn die DDR ihre historische Verantwortung anerkenne und auch Reparationsleistungen nicht mehr ausschließe, seien Beziehungen möglich, heißt es im Außenministerium. Aber bisher befinde sich die israelische Politik in dieser Frage trotz eindeutiger Signale aus Ost-Berlin noch nicht in einer „operativen Phase“.

Der 9.November

In Zukunft „wird man sich am 9.November nicht mehr an die Reichskristallnacht, sondern an den Fall der Berliner Mauer erinnern“, so der Nobelpreisträger Eli Wiesel. Das vielbeschworene Ende der Nachkriegszeit, die Normalisierung der Geschichte wird in Israel nicht nur positiv gesehen. Eine neue historische Epoche, so die Befürchtung, läßt die alte in Vergessenheit geraten. Während bei den Opfern und ihren Kindern die Erinnerung an den Holocaust unauslöschlich bleibt, könnten die Deutschen schon in ein paar Jahren den Völkermord als Teil einer vergangenen Geschichte begreifen, die mit der eigenen nichts mehr zu tun habe. Schon heute gebe es zwei Zeitrechnungen, die der Überlebenden und die der Täter. Die Vorstellung, daß für die Deutschen schon bald der Massenmord an den Juden ähnlich weit entfernt sein könne wie die Revolution von 1848 oder der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, ist für die Überlebenden unerträglich. In der Regierung verfolgt man mit Aufmerksamkeit die Diskussionen um Wirtschaftsprobleme, Stasi-Macht und Korruption in der DDR und stellt mit Bedauern fest, daß auch bei der Opposition die Verantwortung für die eigene Geschichte vor Gründung der DDR bisher kein Thema war.

Manches spricht dafür, daß die verständlichen Emotionen in der Presse wie in der Bevölkerung langsam einem rationalerem Blick weichen werden. Doch auch dann könnte man hier eine deutsche Vereinigung kaum begrüßen. Das einläutende Ende der Nachkriegszeit in Europa findet ohne Israel statt. Kanzler Kohl mag sich gezwungen sehen, die Siegermächte zu konsultieren, wenn er auf die Einigung setzt. Auf die Idee, die Opfer des Holocaust in seine Politik miteinzubeziehen, ist er offenbar bisher noch nicht gekommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen