: Nationaler Stalinismus
■ Die Ceausescu-Clique schlägt aus purer Verzweiflung wild um sich
In Rumänien hat sich das ereignet, was in allen anderen osteuropäischen Ländern vermieden werden konnte: ein Massaker. In Temeswar wurde nicht mit den Demonstranten gesprochen, es wurde der Schießbefehl erteilt und ausgeführt. Auch die rumänischen Medien waren in Abwesenheit des „geliebtesten Sohnes des Volkes“ - so die propagandistische Selbst darstellung - , geschlossen sprachlos. Sie veröffentlichten am Sonntag und Montag einen abstrakt gehaltenen Aufruf zur „Respektierung der sozialistischen Gesetzlichkeit“.
Nun ist der Diktator von seinem Besuch in Teheran, wo er einen Kranz am Grab von Chomeini niederlegte, zurückgekehrt. Er hielt am Mittwoch eine gespenstische Fernsehansprache. Die demonstrierenden Menschen sind für ihn „Faschisten“ und „Reaktionäre“, die von ausländischen Agenten gesteuert worden sind. Er rechtfertigte den Militäreinsatz und verhängte den Ausnahmezustand über die Region. Der Diktator spricht eine tote Sprache.
Rumänien kennt kein 1956 und kein 1968. Es ist, als müßte es das, was überall Vergangenheit ist, erst durchmachen. Rumänien hat etwas, was sonst kein Land kennt: einen nationalen Stalinismus, dessen Zentrum der groteske Personenkult um den Conducator und seine Ehefrau Elena ist. Viele rumänische Intellektuelle haben diesen Personenkult seit den siebziger Jahren mitgestaltet. Nun sind sie ratlos.
Die Sowjetunion hat keinen Einfluß in Rumänien. Die Rote Armee wurde 1958 aus Rumänien abgezogen. Die prosowjetischen Apparatschiks entfernte Ceausescu schon in den sechziger Jahren unter dem Beifall der Bevölkerung aus ihren Machtpositionen. Es gibt in Rumänien auch keine Blockparteien.
Die Ceausescu-Clique bedient sich seit 24 Jahren eines schrillen Nationalismus, der die wahren nationalen Belange übertüncht.
Wir erleben ein Regime, das in der Agonie wild um sich schlägt. Es ist dabei, in seinen eigenen Untergang zahllose Menschenleben mitzuziehen. Es sind die Menschen, die mit dem Mut der Verzweiflung und mit dem Wissen um die Reformbewegung in den Nachbarländern auf die Straße gehen.
Eine internationale Ächtung des Ceausescu Regimes ist dringender denn je.
Richard Wagner, Schriftsteller
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