: Entkernte Maschinen(t)räume
■ Museumslandschaft „Nordwolle“ in Delmenhorst / Historisches als Dekor
Alte Spinde, demontierte Werkzeugmaschinen, ein Haufen Metall und Elektronik, von dem behauptet wird, es handele sich um eine „Ringspinnmaschine“: das ist das Ambiente, in dem sich allwöchentlich die Teilnehmer des Delmenhorster Volkshochschulkurses „Fabrik wird Museum“ treffen. Ex -„Nordwoller“ treffen sich mit Hermi Precht vom städtischen Kulturamt in einem alten Schuppen der Spinnerei und kramen in ihren materiellen und immateriellen Erinnerungen, um Stoff für ihr Projekt zu sammeln:
das Industriemuseum.
Fast hundert Jahre lang stieg das Dorf im Südwesten Bremens im Takt der industriellen Revolution mit auf: Delmenhorst wurde schneller als Restnorddeutschland industrialisiert, im Mittelpunkt stand die „Nordwolle“, die „Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei“, die vom Bremer Wollhändler Lahusen 1884 gegründet wurde. Der Lahusen-Clan errichtete in patriarchaler Gründerzeitmanier nahe dem Bahnhof auf einem Territorium von der Größe der Delmenhorster City eine „Stadt in der Stadt„; neben Produktionshallen, Kraftwerk und Verwaltungsgebäuden fanden sich auf dem Gebiet zwischen Eisenbahn und Delme Werkswohnungen, eine Kapelle, Krankenhäuser, Mädchen- und Junggesellenwohnheime, Geschäfte, eine Badeanstalt und die Fabrikantenvilla ein. - In die 70er Krise der Textilindustrie rutschte auch die „Wolle“, 1980 meldete sie Konkurs an, die letzten 837 Beschäftigten wurden arbeitslos, das Inventar in alle Welt versteigert, und ein gigantisches Industriedenkmal wartete auf die Abrißbirne.
Da befiel kollektive Weitsicht
Stadtrat, Denkmalschutz und den neuen Eigner des Grundstücks, die „Delme AG“, eine Tochter der „Rothenberger Gruppe“, nachdem Gutachter die europaweite Einmaligkeit des Komplexes bestätigt und eine konservative städtebauliche Behandlung gefordert hatten. Eine Mischnutzung wird angestrebt: Die sägezahnförmigen Sheddachhallen werden „entkernt“ und bewohnbar gemacht, Verwaltungsgebäude nehmen gewerbliche Betriebe auf, DAG, Volkshochschule, eine Art „Techno-Park“ und ein Squash-Center sind bereits untergekommen.
Die gesamte backsteinrote Anlage mit den charakteristischen Rundbogenfenstern und Sägezahn-Gesimsen ist, obwohl vielfach verwundet und umgemogelt, immer noch eine „Museumslandschaft“, die von der bedrohlichen Hermetik des Mikrokosmos „Nordwolle“ ebenso erzählt wie von den faszinierenden Maschinenträumen der „Gründerjahre“. Das Museum im Museum aber entsteht im früheren Turbinenhaus, einem Hallenbau von kathedralem Zuschnitt und Flair, der „Kathedrale der Arbeit“ gespitznannt wurde. Hier liegt das Terrain von Herrn Precht und seinen Mitar
beitern, die Sisyphysisches vor sich haben: Neben dem Herrichten von ca. 1500 qm Ausstellungsfläche (die Turbinenhalle glänzt schon schmuck und fertig) geht es zum einen darum, die in alle Welt zerstreuten Maschinen teilweise wieder zurückzukaufen (Ankaufetat 1990: 100.000 DM) und zu restaurieren; zum anderen soll eine (museumspädagogische) Konzeption realisiert werden, die die Sozialgeschichte der „Nordwolle“ ausdrücklich einschließt. Und das bedeutet Forschung, auch oral history (siehe VHS -Kurs). Aus der Tatsache, daß Hermi Precht auf einer halben Stelle sitzt, darf man schließen, daß Delmenhorst das Museum als langfristiges Projekt begreift.
Ökonomisch scheint das Konzept aufzugehen: Kreatives, Kulturelles, Kommerzielles und Wohnliches hinter entkernten Fassaden, vielfältiges Leben in geschichtsträchtiger Kulisse. Daß Historisches dabei zu Dekor verkommt, liegt nahe. Umso wichtiger ist die Aufgabe des Industriemuseums, Bruchstücke authentischen Materials im Sinnzusammenhang zu zeigen, in einer Geschichte, die weiß Marx (und die alten Industriearbeiter) nicht nur schmuck ablief. Bu
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