: St.-Jürgen-Ausschuß: Her- und Aribert (fast) an allem schuld
■ Das Geheimnis des Schwarzgeldes auf 741 Seiten abschließend gelüftet: Unglückliche Kette zufälliger Persönlichkeiten
Herbert Brückners Verhalten war „unbegreiflich“. Der ehemalige Gesundheitssenator ist „seinen Aufsichtspflichten gegenüber dem ZKH-St.-Jürgen-Straße nicht nachgekommen“. Stattdessen nahm seine Behörde „die desolate Struktur jahrelang fast tatenlos hin“.
„Mißerfolge“, „durch die die Stadtgemeinde Bremen erheblichen finanziellen Schaden erlitten“ hat, sind in „wesentlichen Teilen von Herrn Brückner zu verantworten“. Zum Beispiel bei Pflegesatz-Verhandlungen mit den Krankenkassen - insgesamt endete der jahrelange Streit mit einem Defizit von rund 350 Millionen, von denen 200 am Stadtsäckel hängenblieben - nahm Brückner „völlig realitätsferne Verhandlungspositionen ein“ und beharrte „gegen viele mahnende Stimmen auch im Senat bis zuletzt auf ihnen“.
Leitungsstrukturen im größten Bremer Krankenhaus hatten jahrelang „schwerwiegende strukturelle Schwächen“. Es gab eine “ Vielzahl von vorschriftswidrigen, sogar strafbaren Handlungen“ und „kriminellen Handlungsweisen.
„Vom Senat beschlossene Mittelkürzungen waren nicht ge
setzeskonform“, was dazu beitrug, daß „benötigte Geräte auf illegale Weise beschafft wurden“. Außerdem nahm der „Senat bewußt eine Verschlechterung der Leistungsfähigkeit in Kauf“, und er „verschleierte“ gegenüber der Bürgerschaft wichtige Zusammenhänge.
Zwischen der sozialdemokratischen „Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheit“ und dem Arbeitersamariterbund bestanden „enge personelle Beziehungen“. Der ASB hat aus dem ZKH St.-Jürgen-Straße „erheblichen finanziellen Vorteil gezogen“.
170 Zeugen sind in 70 Sitzungen 470 Stunden lang in 18 Monaten von neun Bremer Abgeordneten und neun Stellvertretern öffentlich vernommen worden. Auf 20.000 Seiten sind Fragen und Antworten abgetippt. 420 Leitzordner mit den Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft sind zusätzlich ausgewertet. Das (vorläufige) amtliche Endergebnis liegt vor, ist fünf Zentimeter dick und 1,5 Kilo schwer.
Auf 741 Seiten läßt der Berichtsentwurf des Ausschußvorsitzenden Andreas Lojewski noch einmal den aufhaltsamen Aufstieg des mittelmäßigen Beamten Aribert Galla zum Herrn über
1.500 Krankenbetten und 2.500 Mitarbeiter im größten Bremer Krankenhaus nacherleben. Minutiös zeichnet er das Schattenreich von Scheinfirmen, Geldwaschanlagen und Briefkastenfirmen nach, mit dem schwarze Gelder in graue Kassen transferiert oder fünfstellige Schmiergeldsummen auf Privatkonten der weitläufigen galla'schen Verwandtschaft überwiesen wurden. Noch einmal laufen zweifelhafte Vertretergestalten dubioser Firmen mit lockeren Scheckbüchern durch die Klinikflure und tätigen halbseidenen Geschäfte, für die sich Galla angeblich „abends am Kamin“ Brückners augenzwinkernder Duldung versicherte. Noch einmal werden unsinnge Mengen von Desinfektionsmitteln höchst zweifelhafter Wirksamkeit bestellt und bezahlt, bevor sie überhaupt geliefert sind. Noch einmal werden Bauplanungen freihändig an Scharlatane vergeben, deren vornehmste Befähigung in ihren verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Gallas bestand. Noch einmal tauchen wir in die virennährenden, keimträchtigen Klinik-Katakomben, in denen sich jahrelang Krankenbetten stapelten.
Die Schuldigen sind - wenn
man dem Bericht folgt - gefunden und haben die Konsequenzen entweder ziehen müssen oder werden noch gezogen, nämlich zur Verantwortung. Es sind im wesentlichen: Der Klinikdirektor selbst und sein längjähriger Senator Herbert Brückner. Der eine schuldig durch Taten, der andere schuldig durch Untätigkeit. Was Galla über Jahre verschlampte, veruntreute, verbockte - Brückner wollte es nicht sehen, und wo er nicht übersehen konnte, ließ er gewähren. „Die Aufsicht über das ZKH St.-Jürgen-Straße hat grundlegend versagt. Der insgesamt dadurch entstandene Schaden läßt sich im Nachhinein nicht beziffern. Er dürfte sich in Millionenhöhe bewegen“, lauten die Schlußsätze des Berichts.
Es gibt weitere Schuldige, sozusagen Schuldige zweiter Ordnung. Dazu gehören der Wurst-Dieb und ehemalige Einkaufsleiter Willi Möhle, der ehemalige Vorsitzende der sozialdemokratischen AG „Gesundheit“ und ASB -Geschäftsführer, Fritz Tepperwien, der allzu sorglos seine verschiedenen Funktionen miteinander vermischte, der Ex -Gesundheitssenator und Bildungssenator in spe Henning Scherf, der Galla nicht rausschmiß, sondern
zu einer vorzeitigen Pensionierung verhalf, und Brückners ehmaliger Senatsdirektor Hans Helmut Euler, dem der Ausschuß das Urteil über seine eigene Tätigkeit selbst überläßt. O -Ton Euler über Euler : „Nichts tun ist manchmal auch 'Handeln‘.“ Und - mit einer Deutlichkeit, die dem Ausschuß offensichtlich jeden eigenen Kommentar entbehrlich werden ließ: „Für eine Anweisung habe ich keine Möglichkeit gesehen, weil eine Anweisung bedeutet immer, dann müßte man ja eine eigene Überlegung im Kopf haben.“
Offen läßt der bislang vorliegende Ausschußbericht allerdings, ob der Ausschuß selbst nach fast zweijähriger Tätigkeit eine eigene Überlegung im Kopf hat. Zwar ist hier und da von der „chaotischen Organisationsstruktur“ die Rede, eine politische Bewertung des St.-Jürgen-Skandals sucht man aber auf den über 700 Seiten vergebens - einmal abgesehen von Sitzenbleiber-Zensuren für persönliches Fehlverhalten: Schwarzgeld-Klinik als zufällige und einmalige Ansammlung individueller Charakterdefizite, jederzeit dort wiederholbar, wo sich auch künftig indi
viduelle Unfähigkeit, Überforderung und kriminelle Energie zusammenfinden.
Eine Analyse des sozialdemokratischen Dickichts in dem Bremische Verwaltungshierarchien mit Wohlfahrtsvereinen von anerkannter Gemeinnützigkeit, Privatfirmen und Parteikarrieren zusammenwuchern, findet sich nirgends. Galla ist kein „Phänomen“, sondern ein Symptom kritisierte am Mittwoch FDP-Ausschußmitglied Heinrich Welke. Eine „Diskussion über Konsequenzen, die aus dem Klinikskandal für die Klinikorganisation und Behördenpraxis zu ziehen wären“, vermißt auch die grüne Ausschußvertreterin Carola Schumann. Schumanns später Verdacht über die insgeheime Funktion des Ausschusses: „Vergangenheitsbewältigung für die SPD zu betreiben oder gar die Abrechnung von Sozialdemokraten mit mißliebigen Parteigenossen“ zu unterstützen.
Bis Mittwoch haben Welke und Schumann, die den Berichtsentwurf selbst erst seit einer Woche kennen, Zeit, das ausstehende Abschlußkapitel zu schreiben. Dann will der Ausschuß ihn gemeinsam der Presse vorstellen.
K.S.
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