: „Autoritätsabhängig, verklemmt und lustunfähig“
■ Psychotherapeuten der DDR sind besorgt über „Charakterverformungen“ in der Gesellschaft / Forum und Pressekonferenz in der Charite in Ost-Berlin / Ihre Forderung: Lustvolle Sexualität und „psychische Revolution“
„Der durchschnittliche DDR-Bürger ist autoritätsabhängig und gefühlsgehemmt, vor allem lustunfähig.“ Diese Aussage über die psychosoziale Versorgung in der DDR stammt von Dr.Hans -Joachim Maaz, Chefarzt der Psychotherapeutischen Abteilung im Evangelischen Diakoniewerk Halle. Er gehört zu einer Initiativgruppe, die am Samstag zu einem Forum „Psychotherapeuten äußern sich zur Situation in unserem Land“ in Ost-Berlin geladen hatte. Wie wichtig derartige Diskussionen sind, zeigte der große Andrang in der Charite. Rund 500 Leute - Psychotherapeuten, Patienten und interessierte Laien - setzten sich mit den psychologischen Wurzeln der gesellschaftlichen Deformation in der DDR auseinander. Maaz erklärte auf einer anschließenden Pressekonferenz, das Grundleiden der DDR-Bürger sei ein chronisches Mangelsyndrom, ein Defizit an Befriedigung natürlicher Grundbedürfnisse. Damit verbunden sind eine Entfremdung des Menschen von seiner Natürlichkeit und eine Spaltung der Persönlichkeit. „Wir finden eine soziale Fassade von Wohlanständigkeit, Disziplin und Ordnung und eine darunter verborgene Schicht gestauter Gefühle, die wesentlichen Anteil an der bewußten Motivation zerstörerischen Verhaltens hat.“ Hier handele es sich vor allem, so der Psychotherapeut in seiner Analyse, um existentielle Ängste, mörderische Wut und Haß - tiefen Schmerz und Traurigkeit.
Über das, was in den „Köpfen“ der Leute vor sich geht, welche seelischen Belastungen viele empfinden, wird in der DDR derzeit so gut wie nicht geredet. Notwendige Umgestaltung der Gesellschaft verlangt vor allem auch eine „psychische Revolution“. Darunter verstehen Psychotherapeuten, daß die Entfremdung und Spaltung des Menschen aufgedeckt und beendet werden soll.
Lust an der Befriedigung von Grundbedürfnissen muß nach ihrer Meinung vor allem durch ehrliche Beziehungen, lustvolle Sexualität und offenen Gefühlsausdruck ermöglicht werden. Wichtig sei jetzt, in einem neuen politischen und sozialen Klima, daß stalinistische Denkweisen sich nach Jahrzehnten nicht von heute auf morgen problemlos in den Köpfen der Menschen in marktwirtschaftliche umwandeln werden. Wenn dies zu schnell geschehe, sei die Gefahr groß, daß wieder repressive Strukturen im Lande entstehen. In diesem Zusammenhang fiel auch das Stichwort „Angst vor Freiheit“, das meint, die Menschen seien vielleicht gar nicht in der Lage, mit ihrer neugewonnenen Freiheit umzugehen.
In der DDR arbeiten rund 1.800 Mediziner und Psychologen als Psychotherapeuten. Die Initiativgruppe schätzt ein, daß jeder zweite Patient, der zum Arzt geht, an einer psychosozial verursachten Krankheit leidet.
Sabine Schwalbe
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