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Ziviler Optimismus

Vaclav Havel in Amerika  ■ K O M M E N T A R

Der Rede von der europäischen Identität, verstanden als verpflichtender Wertekanon, haftet meist ein selbstzufriedener Eurozentrismus an. Nicht so bei Vaclav Havel. Ihm liegt der triumphierende Gestus nicht, mit dem in den USA (und anderswo) die demokratischen Umwälzungen als Sieg eines westlichen Zivilisationsmodells gefeiert werden. Das Europa, das jetzt wieder Gestalt annimmt, ist für Havel geprägt von den totalitären Verwüstungen dieses Jahrhunderts. Wenn er jetzt vor dem amerikanischen Kongreß dazu aufforderte, einen Schlußstrich unter den Zweiten Weltkrieg und all seine schrecklichen Folgen zu ziehen, so tat er es in der Hoffnung, daß die Zeit reif ist für ein bescheideneres, auf friedlichen Konsens bedachtes, in zivilen Umgangsformen geübtes Europa. Mit leiser, aber deutlicher Stimme hat er den USA und der Sowjetunion bedeutet, daß ihre militärische Präsenz auf fremden Territorien für den Augenblick zwar notwendig, aber eigentlich schon anachronistisch ist. Havels zivilisatorischer Optimismus ist nicht naiv - das unterscheidet ihn von seinem großen Vorgänger Thomas Garrigue Masaryk, der die europäische Geschichte des 20.Jahrhunderts als gesetzmäßigen Sieg der Demokratie über die Mächte der Theokratie - Rußland und Deutschland interpretierte. Aber wie Masaryk hält Havel gleichzeitig an einer europäischen und globalen Vision der Demokratie fest. Daher seine fürs amerikanische Gemüt befremdliche These, die USA würden sich und Europa den besten Dienst erweisen, wenn sie den Aufbau demokratischer Strukturen in der Sowjetunion und deren Umwandlung in eine Föderation demokratischer Staaten mit allen Mitteln unterstützten, statt auf Zusammenbruch des Imperiums zu setzen.

Die nächste KSZE-Konferenz soll nach Havels Wünschen in einem Zug die Einheit Deutschlands durch einen Friedensvertrag sanktionieren und eine neue Friedensordnung „jenseits der Blöcke“ ins Leben rufen. Daß zwischen der Einigung Deutschlands und Europas ein unauflöslicher Zusammenhang bestehe, haben Havel und seine Freunde von der Charta77 schon zu einem Zeitpunkt vertreten, als die versprengten Gruppen der blockübergreifenden Friedensbewegung ihre einzigen Gesprächspartner waren. Vaclav Havel ist ein ironischer und geduldiger Mensch. Er ist kein größerer Utopist als jener scheinbar weltabgewandte Philosoph, der im 18.Jahrhundert in einer Stadt, deren Namen niemand mehr kennt, sein Traktat vom ewigen Frieden schrieb. Er wird den Politikern an allen Verhandlungstischen noch zu schaffen machen.

Christian Semler

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