: Aus kleinen Brötchen wurden Krümel
■ Vertreter von AL, SPD und CDU zogen nach einem Jahr rot-grüner Strafvollzugspolitik Bilanz / Der Leiter der Abteilung Strafvollzug in der Justizverwaltung, Christoph Flügge, wurde ins Kreuzverhör genommen / Im Knast herrschen Wut und Empörung über Justizsenat
Genau ein Jahr, nachdem die Knastexperten von AL, SPD und CDU zum ersten Mal öffentlich über die Pläne einer rot -grünen Strafvollzugspolitik diskutiert hatten, sah man sich am vergangenen Freitag im Haus der Kirche wieder - diesmal, um auf Einladung der Strafverteidiger-Vereinigung Bilanz zu ziehen. Das Fazit der AL fiel im Gegensatz zu dem der SPD verständlicherweise schlechter aus: „Die großen Reformvorhaben haben entweder gar nicht begonnen oder sind mit der Zögerlichkeit mancher älterer Damen beim Betreten der Fahrbahn auf den Weg gebracht worden“, konstatierte die AL-Abgeordnete Renate Künast bitter. Der SPD-Mann Christoph Flügge, der seit der Wende die Abteilung Strafvollzug in der Justizverwaltung leitet - „alle Augen richten sich auf mich, und ich soll nun sagen, was wir alles gemacht haben“ - wies darauf hin, daß das Koalitionsvorhaben, offener Vollzug als Regelvollzug, auf vier Jahre angelegt und davon erst ein knappes Viertel verstrichen sei. „Vor einem Jahr habe ich von kleinen Brötchen gesprochen, die wir backen müssen“, zitierte Flügge sich selbst. Dabei übersah er geflissentlich, daß aus den kleinen Brötchen „Krümel“ geworden sind, wie der Vorsitzende der Strafverteidiger -Vereinigung, Hajo Ehrig, im Auditorium raunte. Auftrumpfen konnte an diesem Abend eigentlich nur der Vertreter der CDU und langjährige Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herbert Rösler, machte davon aber fairerweise nur einmal Gebrauch: „Vor einem Jahr“, so Rösler, „habe ich prophezeit, daß wir in einem Jahr nicht viel weiter sind, und dafür damals Protest geerntet“. Anschließend zitierte Rösler aus einem Brief eines Gefangenen aus Tegel, in dem von Wut, Empörung und Hungerstreik die Rede war, und brachte damit die Stimmung in den Knästen über das „nicht eingelöste Versprechen des Justizsenats“ auf den Punkt. Daß sich der CDU-Mann in der Opposition offensichtlich bestens eingerichtet hat, wurde offenbar, als Rösler aus einem zweiten Brief ein altes Sponti-Zitat zum besten gab: „Es liegt wohl nicht im Sinne des Systems, daß Wahlen, wenn sie etwas verändern würden, stattfinden würden.“
Im Zentrum des Kreuzverhörs durch die Rechtsanwältinnen Renate Elze, Margarete von Galen und den Rechtsanwalt Matthias Zieger stand natürlich der Leiter der Abteilung Strafvollzug, Flügge. Auch wenn er sich den Umständen entsprechend wacker schlug, vermochte er bei den kritischen Fragern unter dem Strich summa summarum nur wenige Punkte zu erzielen. Zunächst die Pluspunkte: Nachdem der erste „haarsträubende Entwurf“ (Elze) über das Recht für Verteidiger, in die Haftakten von Gefangenen Einsicht nehmen zu können, im Papierkorb gelandet ist, soll nach der Sitzung des Strafvollzugsausschusses der Länder im Mai in Berlin laut Flügge „ein umfassendes Einsichtsrecht ohne Ausschlußgründe“ in Kraft gesetzt werden. Das Methadonprogramm soll, sofern es vom Senat im Frühjahr tatsächlich verabschiedet wird, auch im Vollzug zur Anwendung kommen. Nachdem ausländische Gefangene bislang wegen eines Vetos der Ausländerbehörde keinerlei Vollzugslockerungen bekamen, hat sich in dieser Hinsicht zumindest auf dem Papier etwas getan, weil das Veto seit Oktober nicht mehr bindend ist. In der Praxis hat sich das allerdings noch nicht spürbar ausgewirkt. Einen weiteren Pluspunkt spielte der CDU-Mann dem SPD-Vertreter zu, indem er konstatierte, daß im vergangenen Jahr im Rechtsausschuß weniger Klagen von Gefangenen über die Gesundheitsversorgung im Knast eingegangen sind. Richtiges Lob wurde dem Leiter der Strafvollzugsabteilung von Mitarbeitern der Jugendstrafanstalt Plötzensee zuteil: Noch nie zuvor, so hieß es, habe eine Justizverwaltung die Meinung von Knastmitarbeitern „so ernst“ genommen wie die jetzige.
Eindeutiger Minuspunkt war, daß Flügge den Verdacht nicht ausräumen konnte, daß einige Beamte der Tegeler Ex -Sicherheitstruppe keinerlei Ermittlungstätigkeiten mehr ausüben, wie Anwälte gehört haben. Des weiteren, daß es keine konkrete Planung gibt, wo das Vorhaben offener Vollzug realisiert werden soll. Flügge wies darauf hin, daß die sogenannte Koordinierungskonferenz binnen des nächsten halben Jahres dazu ein einheitliches „Konzept“ erarbeiten und sich bezüglich der Standortfragen „orientieren“ soll. Das „Haupthandicap“ werde die sich drastisch verschlimmernde Wohnungssituation sein: „Wir konnten bislang nicht einen einzigen Ort - weder Heim noch Lager finden -, wo wir alternativ zu den jetzigen Standorten einen offenen Vollzug betreiben können.“ Unabhängig von der Standortfrage versetzte Flügge aller Hoffnung auf einen offenen Vollzug als Regelvollzug einen schweren Dämpfer. So stellte er fast nebenbei fest, daß die Mehrzahl der Gefangenen „rein zahlenmäßig“ gemäß der gesetzlichen Vorschriften „nicht in den offenen Vollzug gehören“. Er spielte damit insbesondere auf die hohe Quote der drogenabhängigen Gefangenen in Tegel und dadurch bedingte Wiederholungstaten und Fluchtgefahr an.
Plutiona Plarre
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