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Der schöne Schein vom START-Vertrag

Strategische Waffenarsenale werden maximal um 30 Prozent reduziert / Genfer Chefunterhändler der USA und der Sowjetunion offenbaren bei erstem gemeinsamen Fernsehauftritt Details des künftigen Abkommens / Anvisiertes Vertragswerk ähnelt Torso statt Jahrhundertwerk  ■  Aus Genf Andreas Zumach

Wo die Substanz dünn ist, sollen gute Beziehungen zwischen den Hauptakteuren Fortschritte vorgaukeln. Diesem Zweck diente auch der erste gemeinsame Fernsehauftritt (in der einstündigen, am Mittwochabend USA-weit ausgestrahlten „McLaughlin„-Show des NBC-Kabelprogramms), zu dessen Aufzeichnung sich Washingtons und Moskaus START -Chefunterhändler, die Botschafter Burt und Nazarkin, am Dienstag in ein Genfer TV-Studio begaben.

Mehrfach lobten sich „Richard“ und „Yuri“ gegenseitig für ihre geschickte Verhandlungsführung und vergaßen auch nicht, ihre zahlreichen Begegnungen auf Genfer Tennisplätzen zu erwähnen (bei denen Richard meistens den kürzeren zieht). Doch in der Fernsehdiskussion mit den Genfer Berichterstattern von taz, Londons 'Daily Telegraph‘ und 'Reuter‘, in deren Verlauf die beiden Chefunterhändler auch einige bislang nicht bekannte Details der jüngsten Moskauer Vereinbarungen ihrer Außenminister offenbarten, wurde schnell deutlich, daß das bislang als „Jahrhundertvertrag“ gepriesene START-Abkommen nur ein Torso wird, zu einem „Schweizer Käse mit großen Löchern“, wie ein Journalist sehr zum Ärger Burts anmerkte.

Nicht zur bislang proklamierten Halbierung der strategischen Waffenarsenale beider Seiten wird der Vertrag führen, sondern nur zu einer Reduzierung um maximal 30 Prozent, räumten Burt und Nazarkin jetzt erstmals öffentlich ein. Experten beider Delegationen sprechen sogar von nur „10 bis 30 Prozent“. Gedacht für die Ohren skeptischer Senatoren, die den Vertrag mit Zweidrittelmehrheit ratifizieren müssen, betonte Burt jedoch, daß es bei „einigen der gefährlichsten, landstationierten sowjetischen Raketen zu 50prozentigen Einschnitten kommen wird“. Womit er indirekt zugab, daß die UdSSR die weit größeren Zugeständnisse gemacht hat und von Moskau als bedrohlich empfundene US-Arsenale auf Schiffen und Flugzeugen weit weniger oder gar nicht betroffen sind. Konkret: Das gesamte strategische „Modernisierungs„programm der USA (B-1 und B-2 -Bomber, Trident-II-U-Boot-Rakete, Midgetman- und MX -Raketen) bleibt von START ausgeklammert.

In Moskau einigten sich Baker und Schewardnadse auf eine Formel, die bis zu 75 Prozent der flugzeuggestützten Cruise Missiles (ALCM) unberücksichtigt läßt: nicht - wie von der UdSSR bisher gewünscht - die Zahl tatsächlich vorhandener und stationierter ALCMs wird zum Ausgangspunkt von Reduzierungen gemacht, sondern nur zehn für jeden mit bis zu 20 ACLMs auszurüstender US-Bomber werden in Rechnung gestellt. Für sowjetische Flugzeuge lautet das entsprechende Verhältnis acht zu zwölf. Beliebig viele ACLMs dürfen darüber hinaus in noch festzulegender Mindestentfernung von Luftwaffenbasen gelagert werden. Im Streit um die ACLM -Reichweite (bislang: UdSSR 600 Kilometer und USA 1.500 Kilometer) hat Baker in Moskau laut Burt den Kompromißvorschlag von 1.000 Kilometern gemacht, den Nazarkin jedoch entschieden ablehnte.

Dahinter steckt Moskaus Sorge vor neuen Abstandsraketen, mit denen künftig in Bitburg und Großbritannien stationierte US-Flugzeuge ohne Gefährdung durch sowjetische Luftabwehr UdSSR-Territorium erreichen könnten. Seegestützte Cruise Missiles (SLCMs) bleiben auf US-Drängen völlig außerhalb des START-Vertrages. In einer völkerrechtlich nicht verbindlichen Nebenvereinbarung, die keinerlei Inspektions oder Verifikationsmöglichleiten vorsieht, wollen sich beide Seiten lediglich über ihren SCLM-Bestand und künftige Planungen „informieren“. Auch nach der Moskauer Außenministertagung ist immer noch offen, ob dabei sämtliche atomare und konventionelle SLCMs (UdSSR) oder nur atomare ab einer bestimmten Reichweite (USA) erfaßt werden. Und schließlich der ganze SDI-Weltraum-ABM-Komplex. Hier ist Moskau zwar inzwischen von der „Vorbedingung“ abgerückt, mit Washington eine Verständigung über die Interpretation des Raketenabwehrvertrages (ABM) noch vor Unterzeichnung eines START-Abkommens zu erzielen. Doch betonte Nazarkin, daß die Sowjetunion „aussteigen wird, sobald die USA den ABM-Vertrag verletzen“.

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