: SAURIER TANZEN NICHT
■ Das fünfte Atonal begann im Künstlerhaus Bethanien
Atonal 90 sollte „der erste Schritt auf dem anderen Dancefloor werden“, anders vor allem, weil die Zuhörer schon durch die Aufnahme der Frequenzen in ihrem Körper und eventuelle Reaktionen sich aus ihrer Konsumentenhaltung befreien sollen. „Lernt endlich tanzen!“ fordern die Veranstalter und setzen drei Tage lang auf Musik aus dem Umfeld von Electro, Acid und House. Für anderes bleibt auf dem diesjährigen Atonal kein Platz.
Atonal wollte immer Neues, Wegbereitendes, noch Unbekanntes präsentieren. Auf den vier bisherigen Festivals traten neben den ehemaligen Königen des Untergrunds wie Laibach und Einstürzende Neubauten genügend Dilettanten auf, von denen danach vielleicht nie wieder jemand etwas gehört hat. 1986 spannten die Veranstalter den Bogen besonders weit - Fritz Langs Metropolis wurde live von einem Orchester begleitet, ein syrisch-orthodoxer Chor symbolisierte die damals gerade anschwappende Ethnowelle, die Elektronik war schon mit The Anti Group vertreten. Drei Jahre Pause später, die die Veranstalter schlichtweg damit rechtfertigen, daß in der Zwischenzeit nichts Wesentliches in der Musikwelt geschehen sei, sind die Regale des „Supermarktes“ gnadenlos leergefegt, und ein „Fachgeschäft“ hat sich in den Räumen niedergelassen. Geblieben sind der Name des Ladens und deren Besitzer.
Die neue Strategie des Geschäfts wird gleich nach Entrichtung des Obulus deutlich, der mit vierundzwanzig Mark pro Abend weit über der Summe der Inflationsprozente seit dem letzten Atonal liegt. Jede Besucher schreitet auf dem Weg in die ehemalige Kapelle des Künstlerhaus Bethaniens durch ein großes Plastetor, auf dem der Name des Sponsors prangt. Mit ihm geht die neue Generation in die leichte Zukunft, begleitet von Hupsignalen, die eine Lichtschranke am Tor bei allen Eintretenden auslöst. Im Treppenhaus steht die verbindliche Leuchtzigarette des Wohltäters. Die Präsenz ist so unverschämt, daß sie schon wieder ehrlich ist und die Glimmstengel bis zum nächsten Morgen reichen.
Sauber weiß und ordentlich ist das Künstlerhaus, die Sockel der Säulen schützen vorsorglich Plastikfolien vor den Spuren schmutziger Schuhe. Alles ist übersichtlich - für unvorhergesehene Exzesse aus unerwarteter Richtung wird kein Platz bleiben. Lange dauerte es am Donnerstag, bis der Raum sich füllte, und in dem bangen Warten auf die Zugpferde des Festivals, auf Clock DVA, wuchs ein großes Fragezeichen: wo waren die 64 Monitore, auf denen Clock DVA ihre Musik synchron umsetzen wollten? Zeit genug, um im nächsten Stockwerk die Installation des Britens Adam Boome zu besichtigen. Ähnlich TouristInnen mit einem Reiseführer in der Hand tauchten vereinzelt BesucherInnen in dem verborgenen Raum auf, warfen ein Blick auf die Leinwand und ins Programm und verschwanden wieder, wie es Vater und Mutter tun, wenn sie neben dem Petersdom auch noch die kleine Kapelle nebenan besichtigen wollen, die der Baedeker so rührend ans Herz legt. Der Sinn des Ganzen blieb den Laien verborgen: Zu aus Sprachfetzen („fuckin'“) zusammengeschnittenen Rhythmen schalteten sich aus zwei Projektorentürmen die Dias auf die Leinwand. Links Elvis, rechts ein junger Mann in weißem Sweatshirt, gar der Künstler selbst?, der spiegelverkehrt Elvis‘ Posen zitierte und in die zeitgenössische Ästhetik der Bewegung übersetzte. Hie die Wurzeln des Rock'n Roll, da die Urenkel? Auf jeden Fall geheimnisvoll nichtssagend für Sprößlinge einer Generation, die irgendwann dazwischen aufwuchs.
Die Brücke zu Zeiten, als alles noch anders war - besser natürlich, wie die Erinnerung glauben macht - und die Rockmusiker noch ehrlich und echte Menschen mit echten Gefühlen, die schlugen Clock DVA, mittlerweile Urgestein, das sich rühmen kann, auf dem Gebiet der Industrie- und Computerforschung mehr als eine Doktorarbeit geleistet zu haben. Die Schüler, die von den Ergebnissen profitieren und entzückte Massen in den Klubs zum Tanzen bringen, hätten sich gegen sie wie Kids auf dem Playground ausnehmen müssen. Allein, es kam anders.
Die Erwartungen waren ins Unermeßliche gestiegen. Auf dem letzen Atonal 1986 und ein Jahr später im S036 hatten die Sheffielder in fast identischer Besetzung unter dem Namen The Anti Group die ZuhörerInnen mit Frequenzexperimenten, Bildern von elektrischen Stühlen und einem philosophischen Rundumschlag bis zurück in die ägyptische Mythologie an die Grenzen physischer und psychischer Belastung, einige gar zum Umkippen gebracht. Wiedervereinigt als Clock DVA sollte auf der BID 1988 der Traum der Band wahr und die Symbiose von Mensch und Maschine, als die Adi Newton seine Band versteht, in der Synchronschaltung von Musik und Monitoren und den dadurch ausgelösten Emotionen vorgeführt werden. Aber die Scheidung von Geist und Materie, unter der die Menschen spätestens seit Beginn des Industriezeitalters besonders leiden zu müssen meinen, wurde auch im Metropol nicht aufgehoben und der Auftritt abgeblasen, bevor er begonnen hatte. Nun standen die Musiker, mittlerweile auf dem Label der Atonal-Veranstalter unter Vertrag genommen und ohne Paul Browse, seitdem zum ersten Mal wieder auf der Bühne, sollten Atonal eröffnen und das Zeichen für ihre Europa-Tournee setzen.
Die Eröffnung mit ihrem populären Stück Hacker, der Hommage an Karl Koch, der für sein Hackertum vom CIA ermordet worden sein soll, bestätigte die Befürchtungen: Die Monitore fehlten auch dieses Mal, eine Leinwand mußte als Ersatz dienen. Zwei Wochen zuvor war der Sponsor der Bildschirme abgesprungen. Mit dem Ausscheiden von Saxophon und Gitarre hatten sich Clock DVA jede Möglichkeit des Bühnenactings genommen. So standen vor der Leinwand nur noch die Silhouetten von Männerfiguren, die ganz die Technik sprechen ließen. Und das ist erst einmal extrem laut und sollte mindsexmäßig und protestantisch - das heißt die Bilder werden zerstört, Ohr und Bauch werden besetzt - für reinigende Räusche sorgen. Musik soll akustischen Kriegstechniken gemäß total wirken. CDVA lassen durch gemeinsam angreifende überlaute Beats und im gleichen Sekundenbruchteilrhythmus zersplatterte Videoschnitte und stroboskopische Schauer den ZuschauerInnen keine Handbreit Raum (jedenfalls wenn sie hingucken) außerhalb ihrer Köpfe. Anders als bei den frühen Neubauten ist es aber nicht möglich, sich das per Projektion zu eigen zu machen und als Geste aggressiv gegen die Welt zu wenden. Nicht weil alles zu laut wäre, sondern weil die Beats dem körpereigenen Blut -, Herzklopf- oder Fickrhythmus entgegenlaufen, sich akkurat und ständig wiederholen und, vor allem, weil eigentlich niemand auf der Bühne ist: kein Star, kein Verrückter, kein am Leben heldenhaft Gescheiterter, an dessen Stelle man sich setzen könnte. Das sind Techniker oder Arrangeure, denen man mit Kafka zurufen möchte, daß an Fortschritt zu glauben nicht heißt, daß ein Fortschritt schon geschehen ist.
Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten, dem ganzen lustvoll zu begegnen: man hält den Kopf oben (doch wohin kann man blicken - die schweigsamen Männer verweigern sich jedem Publikumskontakt) als überlegen-überlebender Held inmitten des Schlachtgetümmels - mit Schweiß auf der Stirn war das die Rezeption meiner Nebenmänner - oder man entwendet den Herren die Peitsche und peitscht sich selbst und weiß nicht, daß das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn.
Was so als Gewalt am Publikum inszeniert ist - klassisch erhaben überwältigend -, ließe sich in seiner Wirkung in den existenzphilosophischen Termini von Heideggers Angstmodell beschreiben (dies sei gestattet, zitiert die Gruppe doch auch ständig berühmte Männer). Durch die totale äußere Besetzung wird die „Bewandnisganzheit des Zuhandenen und Vorhandenen, kurz das alltägliche Weltzeug und -besorgen, belanglos. (...) Das In-Sein kommt in den existenzialen Modus des Un-zuhause“, kurz das arme Ich - so es sich überwältigen läßt und nicht „narzistisch gekränkt“ (Freud) und übel gelaunt abzieht - wird in die kristallenen Hallen einer Existenzvollzugsanstalt geworfen, beziehungsweise in die vereinzelte Faktizität dessen, „daß es ist und zu sein hat“, geworfen in seine Endlichkeit et cetera ('Sein und Zeit‘). Die Technik, das überwältigend Erhabene von dem allem, feiert katastrophensehnsüchtig den Willen zur Subjektlosigkeit. Irgendwo zwischen Throbbing Cristle, White Noise, Suicide, Yellow sind sie in den beginnenden 80er Jahren geblieben. Es funktioniert trotzdem und immer noch man mag in seinem albernen auf-sich-geworfen-Sein denken, was man will.
So jedenfalls im Idealfall. Die depressiv tanzbare, tiefenpsychologische neue Platte Buried Dreams und ihre Geschichte als Band mit Tradition vernachlässigten Clock DVA gekonnt und beschäftigen sich ganz mit dem hektischen Sound ihrer Maxis. Lieblos dröhnte es quadrophon aus den Ecken, als ob sich Anlage und Gebäude eine Schlacht lieferten, an der das Publikum keinen Anteil haben dürfe. Zum Trost gab es hypnotisierende Abfolgen digital aufgelöster und wieder zusammengesetzter Farbstrukturen, bis schließlich, nach 50 Minuten, Lautstärke und der schlechte Sekt von der Bar ihre Wirkung taten. Aspirin, Unmut, Pfiffe, vor allem, als die Zugabe verweigert wurde. Tanzmusik schreckte aus der Anlage und erstickte jeden Protest, wurde gar aufgedreht, als die unfreundlichen Bekundungen lauter wurden. Lustlos verkleckerte die Fangemeinde von Clock-DVA, kaufte sich noch ein paar Platten, um besser Besseres daheim hören zu können.
Blieben die, die sich für Talla 2XLC interessierten. Und auf einmal kam ein bißchen Feststimmung auf, und der Enkel der Saurier erwies sich als eigentlicher Stern des Abends. Harten Beat mischte der Frankfurter Begründer diverser Electrolabels auf der Bühne, „Aggrepo“, aggressiven Pop, mit dem er als „Technoclub“ durch die Discos tourt. Mehr als gut, weder House noch New Beat, wer blieb, tanzte, ob Punk, ob Yuppie; Trockeneisschwaden, Schweiß und irgendwoher der Geruch frischgewaschener Wäsche. Aber da war es schon zu spät, um den Abend als Ganzes zu retten.
Kuhlbrodt/Wahjudi
Atonal 90 noch heute im Künstlerhaus Bethanien mit Adam Boome, Baby Ford, 808 State, DJ Mike Pickering und Cosmic Baby. Einlaß: 20 Uhr.
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