: „Die Grünen müssen europäische Politik machen“
Joschka Fischer fordert, die Grünen müßten die Partei der europäischen Einigung und Abrüstung werden / Ohne Abschied vom „längst überholten Rotationsbeschluß“ und ohne profilierte Köpfe sei keine Erneuerung der Partei möglich ■ I N T E R V I E W
taz: Wann folgt Joschka Fischer seinem Gesinnungsgenossen Schily in die sozialdemokratische Partei?
Fischer: Dazu sehe ich keine Veranlassung. Bei den Umwelt und Demokratieproblemen, die ein vereinigtes Deutschland mit sich bringen wird, ist eine grüne Partei, eine ökologische, radikalreformerische linke Kraft nötiger denn je.
Gibt es diese Partei denn dann überhaupt noch?
Darum wird man kämpfen müssen. Für die Grünen kommt jetzt eine Zeit der extremen Herausforderungen. Da wird man sehr schnell feststellen, ob diese Partei noch handlungsfähig ist, ob sie erwachsen geworden ist. Wenn nicht, werden die Grünen bei gesamtdeutschen Wahlen sehr schnell unter die Räder der Geschichte geraten. Das unproduktive Hickhack um die Frage „Reform oder Revolution?“ muß deshalb schnellstens beendet werden. Wir müssen endlich lernen, auf unseren zwei Standbeinen zu stehen. Die Grünen sind immer noch die Kraft, denen die Menschen in umweltpolitischen Fragen das meiste Vertrauen entgegenbringen. Zum anderen wird die Frage nach einem sozial gerechten und umweltverträglichen Deutschland zur Kardinalsfrage werden. Ich befürchte, daß im Moment der Boden für einen neuen Nationalismus bereitet wird. Da werden die Grünen jetzt aus den inhaltlichen Startlöchern herauskommen und Modelle für eine direkte, partizipatorische Demokratie entwerfen müssen - für die Herstellung einer europäischen, sprich: multikulturellen Gesellschaft hier in Deutschland. Die Grünen haben die Pflicht, die Partei der europäischen Einigung und der Abrüstung zu werden. Das muß in der Partei zugespitzt werden, auch personell. Das heißt, daß die Leute, die diese Prinzipien vertreten, nach vorne müssen auf den Listen und in den Gremien der Partei. Man wird sehen, ob die Zeit dazu noch reicht oder nicht.
Im Moment präsentieren sich die Grünen der Öffentlichkeit als wüster Haufen ohne jede Linie vor allem in der Deutschlandpolitik. In Hamburg bricht die GAL auseinander, im Europaparlament hat sich die Fraktion paralysiert. Wie willst du unter diesen Umständen die Partei konkret wieder zusammenschweißen?
Wir Grüne werden in eine Situation hineingeraten, wo sich die Frage nach Strategien, nach einem Stillhalteabkommen oder dem Kampf zwischen den Flügeln bis zum Sieg einer Linie überhaupt nicht mehr stellt. Die Ereignisse werden die Grünen mit aller Brutalität dazu zwingen, sich auf ihren eigentlichen Auftrag als linke, ökologische, demokratische und pazifistische Partei rückzubesinnen. Entweder schaffen wir es, uns als Oppositionspartei zur nationalen Welle bis hin zur Regierungsfähigkeit zu organisieren, oder wir werden überrollt werden von diesen historischen Veränderungen. In diesem Zusammenhang gesehen, sind die innerparteilichen Diskussionen nicht mehr nur lächerlich. Sie sind überholt, von vorgestern. Daß die Grünen in den letzten Monaten politisch völlig versagt hätten, bestreite ich. Die Grünen haben in der quälenden Diskussion bei der Standpunktsuche in der Deutschlandpolitik die Gesamtsituation widergespiegelt, in der sich die reformerische Linke in der Bundesrepublik befindet.
Was schlägt Joschka Fischer denn nun an konkreten Einzelschritten zur Wiederherstellung der politischen Schlagkraft vor?
Die Alternative verläuft zwischen Selbstbeschäftigung und Wirksamkeit. Selbstbeschäftigung bedeutet für mich, an durch die Realität überholten Rotationsbeschlüssen festzuhalten oder einem Ideal von innerparteilicher Organisation nachzulaufen, von dem mittlerweile alle wissen, daß es so nicht funktioniert. Und nicht zuletzt die völlig unsinnige Kontroverse zwischen Systemopposition und Reformpolitik was denn sonst, wenn nicht Reformpolitik. Selbstbeschäftigung heißt auch, daß man glaubt, man könne ohne Köpfe, ohne profilierte Leute, die für die Grünen sprechen, auskommen. Mit all dem muß jetzt Schluß sein. Man muß sich jetzt auf allen Ebenen der Partei über die prekäre Situation Klarheit verschaffen. Wir werden bei der Aufstellung der Listen zur Bundestagswahl eine gute Mischung aus bewährten und neuen Kräften erreichen müssen. Und wir müssen politisch in Bonn eine europäische Politik machen gegen die Nationalstaatseuphorie, der auch die SPD in Teilen verfallen ist. Und die Landesverbände müssen endlich eine Reform der Organisationsstrukturen in Angriff nehmen. Wir werden uns - bei der dünnen Personaldecke - auch überlegen müssen, ob wir auf Dauer die Trennung von Amt und Mandat aufrechterhalten können.
Glaubst du denn, daß es innerhalb der Partei für solche Zielsetzungen Mehrheiten gibt?
Das kann ich aus der gegenwärtigen Sicht nicht beurteilen. Ich bin mir nur ziemlich sicher, daß die Grünen sich diesen Fragen stellen müssen, oder sie werden von diesen Fragen erdrückt. Handlungsfähigkeit nach außen ist im Moment das Gebot der Stunde. Sonst werden wir untergepflügt - und mit uns die Inhalte und Positionen, für die wir stehen. Man wird dann entsetzt feststellen, wie unverantwortlich man mit einer historischen Chance umgegangen ist.
Interview: Klaus-Peter Klingelschmitt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen