Kohl zittert vor den Berlinern

■ Bonn will Direktwahl der Westberliner zum Bundestag verhindern - angeblich aus Rücksicht auf Bedenken der Sowjetunion / Hat die CDU intrigiert?

Die Erfahrungen mit den letzten Berliner Wahlen haben die Bundesregierung offenbar belehrt: Die Westberliner sind noch nicht reif für die Demokratie. Jetzt bekommen sie die Quittung für ihr rot-grünes Votum: Aller Voraussicht nach werden die Westberliner nicht direkt an der Bundestagswahl am 2.Dezember teilnehmen dürfen, weil die Bundesregierung entschlossen ist, in dieser Frage auf Vorbehalte der UdSSR Rücksicht zu nehmen. Nach Informationen, die der Nachrichtenagentur 'ap‘ aus Regierungskreisen zugesteckt wurden, hat sich auch Frankreich dafür ausgesprochen, die Wünsche Moskaus zu respektieren, obwohl die Sowjetunion formal nicht für das Wahlrecht der Westberliner zuständig ist.

Auch der Berliner CDU-Chef Diepgen zog gestern die Sowjetunion als Kronzeugen heran. Er sei dagegen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Moskau eine „kontroverse Diskussion“ zu führen, erklärte Diepgen. Für die Direktwahl sei die „Zustimmung aller Beteiligten“ vonnöten, meinte der frischgebackene Moskau-Fan.

Die Bundesregierung brachte gestern bereits die Möglichkeit einer Nachwahl für die Westberliner ins Gespräch. Bundesinnenminister Schäuble (CDU) begründete diesen Vorschlag im Bundestag mit der knappen Zeit, die bleibe, um das Bundeswahlgesetz zu ändern. Auch die Zustimmung der drei Westmächte liege noch nicht vor. Sie hätten zwar Sympathien für den Berliner Wunsch nach Direktwahl erkennen lassen, die Konsultationen darüber müßten aber erst abgeschlossen werden.

In West-Berlin stießen die Bonner Bedenken gestern auf Empörung. Mit dem Argument des knappen Zeitplans habe Bundesminister Schäuble schon im Dezember hantiert, hieß es gestern im Rathaus Schöneberg. In Wahrheit fürchte speziell die Berliner CDU eine „Testwahl für Rot-Grün“ - und habe deshalb in Bonn gegen die Direktwahl „intrigiert“.

Der Regierende Bürgermeister Momper erwartete gestern unverdrossen, daß die Westalliierten noch „in diesen Tagen“ entscheiden. Die Sowjetunion habe „kein Vetorecht“, betonte Momper. Solange es nur um das Wahlrecht, nicht aber das Stimmrecht im Bundestag gehe, müßten nicht einmal die Westalliierten ihre Zustimmung geben, ergänzte Senatssprecher Kolhoff.

Der Senatssprecher nannte die Bonner Bedenken gestern vorgeschoben. Es sei dem Senat „nicht verborgen geblieben“, daß Berliner und Bonner CDU sich für das Westberliner Wahlrecht „nicht sehr engagiert hätten“, erklärte Kolhoff. Er erinnerte gestern an die „klare Zusage“ von Bundeskanzler Kohl, sich für die Direktwahl einzusetzen.

Schäuble forderte er auf, die nötigen Vorbereitungen „rechtzeitig“ zu treffen. Es wäre „verheerend“, meinte der Senatssprecher, wenn sowohl die Bürger der Bundesrepublik als auch die der DDR und Ost-Berlins frei wählen dürften, die Westberliner aber „außen vor“ blieben. Der „Kladderadatsch“ sei „komplett“, wenn es im Dezember „möglicherweise“ kein Besatzungsrecht in West-Berlin mehr gebe, die Bürger der Stadt in puncto Wahlrecht aber trotzdem diskriminiert würden.

hmt/ap/dpa