Das Ziel heißt Olympia 1992

■ Mit der 14jährigen Ruscha Kouril als größter Hoffnung wollen die bundesdeutschen Turnerinnen wieder zur Weltspitze aufschließen / Morgen beginnt in Neuss die interne Qualifikation für die Europameisterschaften im Mai

Neuss (taz) - Die Nationalfrauschaft der Turnerinnen galt als in die Drittklassigkeit versunken. Bei den Weltmeisterschaften im vergangenen Oktober in Stuttgart erreichte das Team um den damaligen umstrittenen Bundestrainer Hornig gerade den 18.Platz. Hornig wurde von Wolfgang Bohner abgelöst, und mit dem neuen Cheftrainer scheinen Pessimismus und fehlendes Vertrauen zwischen Athletinnen und Bundestrainer verflogen.

Wolfgang Bohner war bereits eineinhalb Jahre lang als Jugendtrainer im Bundesleistungszentrum Frankfurt tätig, nachdem er von Großbritannien gekommen war, wo er das dortige Nationalteam zu seinen bisher höchsten Erfolgen in der britischen Turngeschichte geführt hatte. Schon bei seiner Tätigkeit als Jugendtrainer lernte er die in Mannheim trainierende Heidelbergerin Ruscha Kouril kennen, die erst seit September vergangenen Jahres im Turninternat Frankfurt untergebracht ist. Als ein „unkompliziertes Mädchen“ erkannte Bohner seinen jetzt vierzehnjährigen Schützling, als „eine psychisch sehr starke Athletin“, die „Biß“ habe, sich „durchkämpfe“ und durch ihre positive Trainingseinstellung auffalle.

Ruscha Kouril ist in Turnerinnen-Kreisen keine Unbekannte mehr. Im vergangenen Jahr wurde sie bei den Deutschen Meisterschaften Erste an ihrem Lieblingsgerät, dem Boden. Wegen Verletzung mußte sie bei internationalen Wettbewerben, für die sie gemeldet war, jedoch auf der Zuschauertribüne Platz nehmen. „Wenn Ruscha bis zur Qualifikation verletzungsfrei trainieren kann“, prophezeite Bohner schon vor einiger Zeit, könne sie „ganz vorne“ dabei sein. Der Bundestrainer rechnet damit, daß sich Ruscha Kouril für die Europameisterschaften am 5. und 6.Mai in Athen wird qualifizieren können. „Es wäre schon ein Erfolg, wenn sich eine Jugendturnerin überhaupt auf Anhieb qualifizieren kann, auch wenn sie nur als Vierte (als Ersatz also) mitfliegt.“

Zu lange wurden Fehler in der Aufbauarbeit bei den Turnerinnen gemacht. Der Tiefpunkt scheint allerdings überwunden, und es ist von einem deutlichen Aufwärtstrend die Rede. Wolfgang Bohner bleibt aber bei allem Optimismus auf dem Boden. „Ich bin Realist“, sagt er und verweist auf das Ergebnis der letzten Europameisterschaft. Da plazierte sich die beste bundesdeutsche Turnerin auf dem 38.Rang. „Das ist unser Ausgangspunkt.“

Für ihn ist Athen nur eine Zwischenstation. Das eigentliche Ziel heißt Weltmeisterschaft 1991, denn da geht es um die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona. Im Augenblick wäre der zur Qualifikation erforderliche 12. Platz undenkbar. Bei den Weltmeisterschaften in Stuttgart wurden die bundesdeutschen Frauen noch recht gut bewertet, bei der nächsten WM in Illinois gibt es Boni bestimmt nicht mehr. Unerreichbar ist das Ziel jedoch nicht: „Es gibt noch ein paar sehr gute Turnerinnen aus dem Jugendbereich, die in diesem Jahr aufrücken“, verspricht Bohner.

Ruscha Kouril freilich ist die derzeitige Nummer eins unter den Nachwuchsturnerinnen. Sie wird von Wolfgang Bohner als „Idealfall“ bezeichnet; nicht nur, weil sie die Hoffnungen des Aufwärtstrends trägt, sondern weil bei ihr auch das Umfeld stimmt. Ihr mußte nicht lange geraten werden, ins Turninternat nach Frankfurt zu ziehen. „Ich wollte das schon immer“, bekundet sie. Für Schule ist gesorgt, und Heimweh gibt es auch nicht: bis zu ihren Eltern sind es gerade 45 Minuten Zugfahrt. Normalerweise verbringt sie jedes zweite Wochenende zu Hause, es ergeben sich aber auch immer wieder Spontanbesuche. „Es wäre natürlich gut“, wünscht sich Wolfgang Bohner, „wenn wir eine solche Regelung im ganzen Bundesgebiet verwirklichen könnten; daß es die Turnerinnen von ihrem jeweiligen Stützpunkt nicht so weit nach Hause haben.“ Dies war auch bei früheren Frauschaften immer ein Problem.

Ruscha Kouril, die sich zu einer Vorzeigeathletin entwickeln könnte, stammt aus einem internationalen Elternhaus. Der Vater ist Amerikaner, der Großvater kommt aus der Tschechoslowakei, die Mutter ist Österreicherin. Der Vorname Ruscha stammt aus dem Russischen. Nach ihren Schwächen befragt, schmunzelt die 14jährige: „Der Sprung vielleicht.“ Doch daran wird schon kräftig gearbeitet. „Und kleinere orthopädische Probleme“, ergänzt Wolfgang Bohner, „konnten wir mittlerweile durch Physiotherapie und gezieltes Krafttraining schon fast kompensieren.“

Thomas Schreyer