: Das Ende des Kemalismus?
Das Scheitern der türkischen Europapolitik führte zu einer Stärkung fundamentalistischer und pantürkischer Strömungen in der Türkei ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
„Wir sind bereits in der EG. Türkische Putzkolonnen säubern EG-Zentrale“, lautete die Schlagzeile der liberalen Tageszeitung 'Milliyet‘. Genüßlich lasen die türkischen Leser die ebenso humorvolle wie zynische Reportage über das Reinemachen in der Brüsseler EG-Behörde. Hatte doch Staatspräsident Turgut Özal erst jüngst nach einem Gespräch mit seinem Amtskollegen Mitterrand in Paris behauptet, es gäbe „keine Probleme bezüglich der Aufnahme in die EG“.
Während türkische Politiker quer durch alle im Parlament vertretenen Parteien Zukunftsoptimismus verkünden und ihren Wählern weismachen wollen, die Aufnahme der Türkei in die EG stünde unmittelbar bevor, hat sich bis ins letzte Kaffeehaus herumgesprochen, daß die EG die Türken nicht will. Die Reportage in 'Milliyet‘ traf ins Schwarze.
Visumzwang
statt Freizügigkeit
In Brüssel wird der 1987 von der Türkei gestellte Antrag, Vollmitglied der EG zu werden, nicht ernst genommen. Der EG -Ministerrat entschied, daß der Antrag bis zum Jahre 1993 nicht einmal behandelt werden soll. Die Europa-Politik der Türkei ist gescheitert.
Kaum jemand redet noch über die Freizügigkeit für türkische „Arbeitnehmer“, die, 1963 vertraglich im Assoziierungsvertrag der Türkei mit der damaligen EWG festgelegt, 1986 in Kraft treten sollte. Stattdessen Visazwang für Türken in fast allen westeuropäischen Staaten. Statt Freizügigkeit entwürdigendes Anstehen vor den westdeutschen Konsulaten. Während ausländische Partner von Angehörigen der EG-Staaten Freizügigkeit genießen sollen, wird türkischen Arbeitern, die seit Jahren in EG-Ländern arbeiten, dieses Recht verwehrt. „Warum?“ fragen türkische Zeitungen.
Die Liste der europäischen Gegner einer EG-Mitgliedschaft der Türkei ist lang: vor allem Zahlenbeispiele, die belegen sollen, daß die Türkei ökonomisch rückständig und nicht „reif“ für die Vollmitgliedschaft sei, aber auch Klagen über die Militärs, über Menschenrechtsverletzungen und Folter.
Doch zu Recht macht sich in der Türkei der Glaube breit, daß all diese Gründe vorgeschoben sind. „Wenn es keine Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gäbe, müßte die EG sie erfinden“, spottet ein türkischer Diplomat. Kulturell -ethnische und vor allem religiöse Gründe spielen eine entscheidende Rolle in der Ablehnungsfront gegen die Türkei. Einmal rutschte es Jacques Delors, dem Präsidenten der EG -Kommission aus dem Mund. Er bezeichnete die Gemeinschaft als „christlichen Club“.
„Europäisches Haus“ oder „christlicher Westen“...
Bei der Mehrheit der türkischen Intellektuellen, die traditionell westlich und liberal ausgerichtet sind, ist die Enttäuschung groß. Voller Schrecken sichteten diese Kreise jüngst eine „politische Landkarte des Jahres 2020“ in der 'Financial Times‘: Im Westen eine Europäische Union, im Osten eine „Türkische Union“, die das Territorium der Türkei, Sowjetisch- und Iranisch-Aserbaidschan und die Siedlungsgebiete anderer zentralasiatischer Turkvölker umfaßt. Die große türkische Tageszeitung 'Hürriyet‘ beschuldigte den Autor der „Grundstücksmaklerei“: „Während wir uns dem europäischen Haus zuwenden, suchen andere für uns neue Quartiere aus.“
Türkische Politiker mögen Tag für Tag ihre Westbindung beschwören, die islamischen Fundamentalisten mögen in der Türkei bislang keine größere Rolle spielen als die Reps in der BRD - doch es hilft alles nichts: Tatsache bleibt, daß die Türken keine Christen sind, sondern Moslems - und somit verdächtig. Seit den gewaltigen Umbrüchen in Osteuropa arbeiten gut bezahlte Bürokraten die Modalitäten aus, wie „die Mauer“ weiter nach Süden verschoben werden kann - nicht mehr gegen den Kommunismus, sondern gegen den Islam. Der extremen Rechten in der Türkei kommt diese Entwicklung ganz gelegen, sie schlägt politisches Kapital daraus.
„Die Ketten, die der christliche Westen seit zwei Jahrhunderten und die Kommunisten seit 72 Jahren der türkischen und islamischen Welt angelegt haben, werden gesprengt werden. Der Endsieg gehört dem Türkentum und der islamischen Welt“, schreibt der Kolumnist Necati Özfatura in der Zeitung 'Türkiye‘, die ein Bündnis Gorbatschows mit dem Papst ausgemacht hat. Das EG-Fiasko ist Dauerbrenner der rechten Ideologen, die weiter im Osten, bei anderen Turkvölkern und der islamischen Gemeinschaft, eine Zukunft für die Türkei suchen.
...und „islamischer Osten“
Eine obskure Stiftung mit dem Namen „Türkentum 2000“ lud vor zwei Wochen zu einem Symposium ein. „Die Zukunft des Türkentums“ - so der Titel des Symposiums - war Gegenstand der Versammlung, zu der sich rechte Ideologen aus Politik und Wissenschaft eingefunden hatten. Befreiung von 150 Millionen Auslandstürken von der Sklaverei hatten die Veranstalter auf ihre Fahnen geschrieben. Türken aus Aserbaidschan, der Krim, Griechenland, Bulgarien und dem Irak, die angereist kamen, sollten der Forderung Nachdruck verleihen. „Das Türkentum des 21. Jahrhunderts wird die Welt erzittern lassen“, drohte Staatsminister Ercüment Konukman, der Rechtsaußen im türkischen Kabinett. Von den großen Kriegen der Türken in der Geschichte war die Rede. Im Jahre 2000 - so Minister Konukman - werde die Türkei eine Großmacht sein.
Minutenlangen Applaus erntete ein Telegramm des Faschisten Alparslan Türkes, der einst als allmächtiger Führer der „Grauen Wölfe“ durch Terroranschläge Angst und Schrecken verbreitete.
Auftrieb erhalten die nationalchauvinistischen Kräfte auch durch die jüngsten Ereignisse in den Nachbarländern. Der Massenexodus der türkischen Minderheit in Bulgarien, die Übergriffe auf die türkische Minderheit im nordgriechischen Komotini und nicht zuletzt der Einmarsch der Roten Armee in Aserbaidschan haben den extremisten Auftrieb verschafft. Hinzu kommt, daß die Türkei durch die politischen Veränderungen in der Sowjetunion ihre geostrategische Bedeutung für die USA und die Nato verliert. Mit der Aggression des enttäuschten Liebhabers veröffentlichte die rechte Presse Tiraden gegen die USA. Im amerikanischen Senat stand die Einführung eines „Armenier-Tages“ zur Erinnerung an das Massaker im Ersten Weltkrieg an. Von einer Weltverschwörung gegen die Türken ist in den rechten Zeitungen die Rede. „Amerikaner, Europäer, Russen, Armenier, Griechen, Zionisten und andere (sic!) führen einen Kreuzug gegen die Türken“, weiß die Zeitung 'Türkiye‘ zu berichten.
Der Traum von der „türkischen Nation“
Die Ideologen von Pantürkismus und Panturanismus, die von einem vereinigten Reich aller Turkvölker, von Zentralasien bis zum Balkan, schwärmen, sind wieder im Geschäft. Geehrt wird Enver Pasa, der Kriegsminister des Osmanischen Reiches, der zu den führenden Köpfen des Panturanismus zählte und für das Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges verantwortlich war. Er wollte im Kriegsbündnis mit den Deutschen den osmanischen Vielvölkerstaat in ein Turkreich umwandeln.
Zu den intellektuellen Wegbereitern des Turanismus zählt der türkische Soziologe Ziya Gökalp, der Anfang des Jahrhunderts in der antimonarchistisch-konstitutionellen Bewegung der Jungtürken aktiv war. In seinen frühen Schriften versuchte er dem Völkergemisch des Osmanischen Reiches eine nationale Identität - „die osmanische Nation“ zu stiften. Das Einwanderungsland USA diente als Vorbild, die Osmanen sollten „die amerikanische Nation des Ostens“ sein.
Die Geschichte machte Gökalp einen Strich durch die Rechnung. Im Zuge der europäischen Nationalismen sagten sich immer mehr Völker vom osmanischen Staat los. Schlußlicht: die Türken. Sie waren die allerletzten, die dem Begriff der Nation etwas Positives abgewinnen konnten. Nach den Balkankriegen hatte Gökalp seine Meinung geändert. Die Einheit der Turkvölker wurde nunmehr angestrebt. „Turan: Der Traum der türkischen Nation.“ Nach Gökalp ein „ferner“, aber „attraktiver“ Traum.
Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Gründung des türkischen Nationalstaates im Jahr 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk war der Traum vom großen Turanreich vorbei. Enver Pasa fiel in Zentralasien im Kampf gegen die Bolschewiki. Atatürks Nationalstaat verurteilte ausdrücklich die expansionistische Ideologie des Panturanismus. Turanisten wurden vor Gericht gestellt und verurteilt.
Die Kemalisten hatten die Hinwendung zum Westen in den zwanziger Jahren zur staatlichen Doktrin erklärt. Der Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, die von den Kemalisten gegen erbitterten Widerstand in der Bevölkerung durchgesetzt wurde, bot das entscheidende Instrumentarium auf diesem Weg. Die Zivil- und Strafgesetze wurden aus Europa importiert. Ausdrücklich verzichtete die kemalistische Außenpolitik auf territoriale Ansprüche, obwohl Millionen Türken die Mehrheit der Bevölkerung in ganzen Regionen außerhalb der Türkei stellten. Die Kemalisten pflegten in den zwanziger und dreißiger Jahren freundschaftliche Beziehungen zu Moskau, nie wurden Interessen sowjetischer Turkvölker - etwa der Aserbaidschaner - Bestandteil türkischer Außenpolitik. Im Gegenteil: Die kulturelle Hinwendung zum Westen bedeutete den kulturellen Bruch mit den Auslandstürken. Die Annahme des lateinischen Alphabets in der Türkei im Jahre 1928 ist nur ein Beispiel. Heute schreiben die sowjetischen Aserbaidschaner kyrillisch und die iranischen Aserbaidschaner arabisch, obwohl sie ein und dieselbe Sprache sprechen: türkisch.
Die Berufung auf den Kemalismus gehört heute zum Geschäft jedes staatstragenden Politikers in der Türkei. „Die Vollmitgliedschaft in der EG ist nur die folgerichtige Konsequenz des Weges der Verwestlichung, den die Türkei seit Gründung der Republik eingeschlagen hat“, erklärt Außenminister Ali Bozer.
Doch die Revision des Kemalismus hat längst begonnen. Die regierende Mutterlandspartei muß auf die Nationalchauvinisten Rücksicht nehmen. Ein Mann wie Ercüment Konukman, der „auf sowjetischem Boden türkische Fahnen hissen“ will, sitzt im Kabinett. Grotesk nahm sich der Beschwichtigungsversuch des türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal in Washington aus, als pro-armenische, westliche Berichterstattung den Einmarsch der Roten Armee in Aserbaidschan begleitete: „Die Aseris sind Schiiten, und wir sind Sunniten, deshalb sind sie nicht nur geographisch, sondern auch kulturell dem Iran näher als der Türkei.“ Der Staatspräsident sei falsch verstanden worden, teilte später der Pressereferent mit.
Die faschistische „Nationale Aktionspartei“ machte sich in den siebziger Jahren mehr durch Attentate, denn durch Wählerstimmen einen Namen. Die extremen Turkisten von einst haben hinzugelernt. Motive der islamisch -fundamentalistischen Bewegung, einst erklärter Feind der extremen Nationalisten, werden programmatisch aufgegriffen. „Türkisch-islamische Synthese“ heißt der Begriff, der seit ein paar Jahren durch türkische Zeitungen geistert.
Noch verfügen die Turkchauvinisten über keinen Massenanhang in der Bevölkerung. Doch die Ideologen formieren sich. Insbesondere rechte Geschichtsprofessoren leisten Pionierarbeit. Parallelen zum Historikerstreit in der Bundesrepublik drängen sich auf. Für einen Neubeginn müssen die Lasten der Vergangenheit verdrängt werden. „Der türkische Intellektuelle muß sich vom Turanismuskomplex befreien“, schreibt Mim Kemal Öke.
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