Gefährliche Kraftprobe

Litauens unabhängiges Spiel um Unabhängigkeit  ■ K O M M E N T A R E

In Litauen ist jene Situation eingetreten, zu der es kluge Politiker nie kommen lassen dürften: Daß es nur noch um Sieg oder Niederlage geht. Der Sieg der Sahjudis-Führung würde Gorbatschow endgültig als Aufschneider vorführen, der mit Muskeln spielt, die er nicht hat. Das hätte erhebliche innenpolitische Auswirkungen. Ein Moskauer Sieg hingegen würde das Scheitern der bisherigen Entspannungspolitik bedeuten, deren positive Auswirkungen weltweit zu sehen sind. Wie immer jedoch das Spiel ausgeht, der moralische Sieg ist der Sahjudis gewiß. Sie will vorführen, daß Gorbatschow entweder eine machtpolitische Null oder daß er ein zweiter Stalin ist. Es wird ein Aufatmen im Nato -Hauptquartier in Brüssel geben.

Der internationalen Solidarität kann sich die Sajuhdis auf jedenfall sicher sein. Schließlich hat ein kleines Volk in freien Wahlen ein Parlament gewählt, das die Unabhängigkeit deklarierte und sich nun daran machte, sie zu vollziehen. Die Macht, die vor 50 Jahren aufgrund eines völkerrechtlich ungültigen Vertrages das Land annektierte, demonstriert dagegen mit militärischer Stärke ihre Bereitschaft, das Unrecht fortzusetzen.

Erstaunlich ist, daß sich ein so gewiefter Politiker wie Gorbatschow in eine Lage manövrieren ließ, die nur solche Auswege zuläßt, die der bisherigen Politik diametral widersprechen. Sicherlich war Gorbatschows ursprüngliches Ziel, die Reform der Sowjetunion gewesen, nicht ihre Auflösung. Auf der anderen Seite hatte er sich bisher stets flexibel gezeigt. Unter dem Druck der sich bildenden politischen Bewegungen hatte er immer wieder seine Position verändert - zuletzt mit der Idee, die Union in eine Konföderation mit geregelten Austrittsprozeduren zu verwandeln.

Die nationalen Bewegungen wurden aber inzwischen so stark, daß ihre Forderungen nicht mehr zu umgehen sind. Die Frage stellte sich also nicht mehr, ob die Unabhängigkeit kommen, sondern wie sie kommen sollte.

Schwierigkeiten mußten dem politischen Handeln Gorbatschows dort entstehen, wo er mit zugleich mächtigen und kompromißlosen Gegnern konfrontiert war, wie jetzt der Sahjudis. Es konnte schon im Herbst bei Gorbatschows Besuch in Litauen bedenklich stimmen, daß Sahjudis-Chef Landsbergis die Ankündigung Gorbatschows, es würden Austrittsregelungen für die Sowjetrepubliken geschaffen, als Heuchelei vom Tisch wischte. Ein kluger Politiker hätte nach einer solchen Ankündigung eine Beteiligung der Nationalbewegungen verlangt und eigene Vorstellungen formuliert. Die Unabhängigkeit Litauens, wenn sie denn von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gewünscht wird, wäre mittelfristig dann auch nicht aufzuhalten gewesen.

Die Sahjudis-Führung kann jetzt fest mit der moralischen Solidarität all jener rechnen, die ihr prinzipielles Ziel, die Selbstbestimmung, unterstützen. Daß sie aber auf totalen Sieg oder totale Niederlage setzte, zeigt nicht nur ihr unbeugsames Unabhängigkeitsstreben, sondern auch ihre politische Inkompetenz. Es ist etwas anderes, ob man ein Ziel mit Beharrlichkeit und Klugheit erreicht, ober man mit Bauernschläue sich und die anderen in eine Lage manövriert, in der es nur um das Opernszenario Triumph oder Untergang geht.

Die Sahjudis-Führung hat in letzter Zeit immer wieder darauf verwiesen, daß ihr die Demokratisierung in der Sowjetunion oder die Entspannung mit der Welt egal sind, solange Litauen seine Selbständigkeit nicht erreicht hat. Was geht Litauen die Sowjetunion an, und was soll die entspannen, wenn ein kleines Volk brutal geknechtet wird. Die Gegenrechnung jener, die in der umgebenden Welt leben und ein Scheitern der Perestroika fürchten müssen, verbietet sich moralisch. Es darf aber wohl gefragt werden, ob ein berechtigtes Ziel in jedem Falle diplomatische Dämlichkeit rechtfertigt.

Erhard Stölting