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Das letzte Interview

Bruno Bettelheim über seine Arbeit, die Krise der Psychoanalyse, Alter und Selbstmord  ■ D O K U M E N T A T I O N

Das Interview gab der Kinderpsychotherapeut Bruno Bettelheim seinem Schüler, dem französischen Psychoanalytiker Daniel Karlin. Am 14. März ist Bettelheim freiwillig aus dem Leben geschieden. Mit 86 Jahren. Das Interview beginnt mit der Schilderung der Therapie eines autistischen Mädchens. Bettelheims Lebenswerk war die Orthogenic School in Chicago, wo er autistischen Kindern den Weg ins Leben bahnte.

Bruno Bettelheim: Ich erinnere mich noch an den ersten Satz, den das Mädchen sprach: „Bringt mir den Körper von George Washington.“ Der erste Satz, den autistische Kinder aussprechen, ist immer komplett und von außerordentlicher Bedeutung. Die Mutter des Mädchens wollte von seiner Existenz nichts wissen, weil sie es mit einem Unbekannten gezeugt hatte. Das Mädchen - ein amerikanisches Mädchen! hat das Problem des unbekannten Vaters mit einer Andeutung des „Leichnams im Keller“ verbunden. Deswegen dieser Satz. Ich war zunächst völlig verblüfft. Seit einem Jahr hatte ich mit dem Mädchen gearbeitet - und plötzlich dieser klare Satz. Ich kann auch nicht sagen, wie ich diese Reaktion hervorgerufen hatte. Man kann nie vorhersagen, was passieren wird. Je mehr sie über die frühkindliche Phase wissen, die zum Autismus geführt hat, desto eher werden sie den Sinn des ersten Satzes verstehen. Ich war von dem Problem fasziniert. Es gibt in meinen Augen keinen faszinierenderen Augenblick, als den, wenn ein Kind aus seinem Schweigen ausbricht und beginnt zu kommunizieren.

Daniel Karlin: Haben die Kinder Ihnen später berichtet, wie sie sich als Autisten gefühlt hatten?

Viele Kinder haben mir - jedes auf seine Weise - erzählt, daß ihr Autismus von dem Gefühl herrührte, vollständig zurückgestoßen und liebensunwürdig zu sein. (...) Es ist notwendig, die Bedeutung jeder Bewegung zu suchen. Sie müssen von dem Wert dessen, was sie gefunden haben, überzeugt sein. Ohne diese Überzeugung kann sich das Kind nicht selbst verstehen.

Es scheint in den Industrieländern einen Rückzug der psychoanalytischen Theorie zu geben. Stellen Sie dies auch für die USA fest?

Ja. Die Psychoanalyse hat sich seit der Zeit Freuds sehr verändert. Zu einem Teil war das notwendig, zu einem anderen ist es bedauerlich. Freud zog seine Motivation aus der Neuigkeit seiner Entdeckung. Seine Selbstanalyse war eine einzigartige Erfahrung, die bisher von keinem nachgemacht werden konnte. In den USA ist die Therapie heute oberflächlicher geworden. Die Patienten kommen nicht mehr sechsmal in der Woche, wie in Wien, als ich dort studierte. Dadurch wird die Analyse weniger intensiv und weniger wichtig. Nicht nur für den Analysanden, sondern auch für den Analytiker. Sie haben es mit vielen Patienten zu tun und können sich unmöglich so hineingeben wie früher.

Liegt der Rückgang der Psychoanalyse nicht auch daran, daß sie - nicht zu einer Industrie, aber - zu einer Gewohnheit geworden ist?

Psychoanalyse ist zu einer Art des Lebens geworden, des Lebens mit sich selbst. Wenn man in der Psychoanalyse bleiben möchte, muß man sich ständig weiter analysieren. Ich selbst tue es auch noch, obwohl es mit dem Alter natürlich schwerer wird. Aber man darf nie aufhören, sich über die verborgenen Motive unseres eigenen Verhaltens zu befragen.

Wie reagieren Sie auf Leute, die sagen: All das ist völlig veraltet, Freud ist tot?

Daß Freud tot ist, wird niemand bestreiten wollen. Aber seine Theorien sind noch am Leben; und seine Botschaft. Die Grenze verläuft zwischen denen, die ein Verhalten ändern wollen, und jenen, die es verstehen möchten. Eltern, die ihr Kind schlagen, wollen dessen Verhalten ändern; Eltern, die die Motive verstehen wollen, die hinter dem Verhalten ihres Kindes stehen, schlagen es nicht.

Ist in Ihnen etwas gestorben, als Sie die orthogenetische Schule schließen mußten?

Ja, gewiß. Es fällt mir jetzt viel schwerer, einen Sinn in meinem Leben zu finden. Das war früher nie ein Problem, als ich noch die Schule leitete.

Bereuen Sie ihre Entscheidung?

Es ist keine Wut, eher Traurigkeit. Aber ich sage mir, es ist gut, aufgehört zu haben, als es noch möglich war, die Kinder so zu pflegen wie es nötig war.

Wie verbringen Sie jetzt Ihren Tag?

Ich lese ein wenig. Ich schreibe ganz wenig. Ich unterrichte. Im Alter ist das sehr viel schwieriger. Zur Zeit bin ich in Moby Dick vertieft, ein außergewöhnliches Buch. Der Anfang des Buches kam mir immer vor wie ein klassisches Beispiel einer heranwachsenden, sich revoltierenden Persönlichkeit: „Nennen Sie mich Ismael“ das ist nicht sein wahrer Vorname. Melville hat diesen Namen gewählt, weil alle Welt wußte, wer Ismael in der Bibel gewesen ist: derjenige, der die Hand gegen alle anderen erhebt, und gegen den alle anderen die Hand erheben. Ein Mensch am Rand, im Konflikt mit sich selbst und allen anderen.

So wie Sie?

In gewisser Weise ja. Jetzt, wo Sie es sagen. Es gibt Dinge, mit denen ich mich niemals abfinden konnte.

Sie haben ein Jahr in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald verbracht. Wie konnten Sie fliehen?

Fliehen war unmöglich. Als wir 1938 im Lager ankamen, haben uns die älteren Häftlinge gewarnt und gesagt: Wenn Ihr den ersten Monat überlebt, habt Ihr gute Chancen, das Jahr zu überstehen. Während der ersten Monate starb ein Drittel, ein Drittel überlebte und ein Drittel wurde freigelassen. Ich hatte Glück.

Sie haben die orthogenetische Schule mir gegenüber sehr oft als „umgekehrtes Konzentrationslager“ bezeichnet. Eine Obsession?

Niemand kann so etwas vergessen. Alle, die eine Zeitlang in einem deutschen Konzentrationslager gewesen sind, tragen es für den Rest ihres Lebens mit sich herum. Natürlich gab es Tage, wo ich nicht daran gedacht habe - aber das waren wenige.

Das ist jetzt 49 Jahre her.

Ja. Aber es bleibt ein Gefühl von Scham und Schuld. Scham darüber, sich derartige Erniedrigungen gefallen gelassen zu haben; Schuldgefühl, einer der wenigen zu sein, die das Glück hatten zu überleben.

Auch das Gefühl, überlebt zu haben, weil ein anderer gestorben ist?

Genau.

Glauben Sie, ohne die Erfahrung des KZs hätten Sie mit dem gleichen Erfolg die Kinder pflegen können?

Sehr schwer zu sagen. Weil jeder die Frucht seiner eigenen Erfahrungen ist. Aber ich glaube nicht, daß ich mich ohne die Lagererfahrung in der gleichen Weise dafür eingesetzt hätte, Menschen zu retten, die in ihrer eigenen Angst eingesperrt sind.

Das Lager ist Teil Ihres Lebens geworden. Sie sind niemals wirklich daraus gerettet worden?

Das ist wahr. Und das ist der Grund, weshalb so bemerkenswerte Menschen wie Primo Levi schließlich Selbstmord begangen haben. Weil sie ihre Angst nicht loswerden konnten. Der Schrecken des Konzentrationslagers blieb, auch wenn sie äußerlich in Freiheit lebten, als anerkannte Schriftsteller.

Aber immer zwischen Stacheldraht lebten.

So ist es.

Und was Sie daran gehindert hat, sich umzubringen...

Bis jetzt, bis jetzt! Warten wir es ab.

...war doch, daß Sie Leben gerettet haben?

Ja, aber andererseits wird man seine schwere Vergangenheit niemals los. Einmal muß man damit Schluß machen, um endlich frei zu sein. Um selbst über sein Schicksal entscheiden zu können. Im Konzentrationslager war kein Platz für irgend etwas. Aber wenn jemand sich umbringen wollte, war das sehr einfach: es genügte, sich in den elektrischen Stacheldraht zu werfen. Viele haben das getan.

Ist auch Ihnen der Gedanke an Selbstmord im Lager gekommen?

Im Lager durfte man es sich nicht leisten, an Selbstmord zu denken - sonst hätte man es getan.

Wann haben Sie an Selbstmord gedacht?

Erst viel später konnte ich es mir erlauben, daran zu denken.

Das ist paradox: Sie konnten erst an Selbstmord denken, als Ihr Leben wieder Wert bekommen hatte?

Ja, weil ich so nicht in Gefahr stand, den Selbstmord auch zu vollziehen. Weil viele Dinge mir Lust gemacht haben zu leben.

Das Alter ist ein bestimmendes Element der menschlichen Existenz. Wie leben Sie damit?

Das Leben ist sehr viel schwerer geworden, und man fragt sich, ob es sich überhaupt noch lohnt.

Sie haben genau beschrieben, weshalb sich Menschen umbringen oder nicht. Ich muß diese Frage stellen: Wenn Sie nach dem Tod Ihrer Frau so alleine sind und das Leben Ihnen schwer fällt, warum haben Sie bis heute beschlossen, sich nicht umzubringen?

Ich glaube, es gibt noch einige Dinge, die ich machen kann, einige Sachen, die für mich noch Wert haben. Mit Ihnen dieses Gespräch führen, zum Beispiel. Ich will weiterleben.

Stark gekürzte Fassung eines Filminterviews, das der französische Sender „La Sept“ am 17. März 1990 in Wiederholung ausgestrahlt hat. Übersetzung: smo

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