: Nachgetragene Geschichte
■ Das Moskauer Schuldgeständnis zu Katyn
K O M M E N T A R E
Ende der 70er Jahre wurde in einem Emigrationsverlag ein umfängliches Konvolut veröffentlicht - die zentralen Anweisungen der polnischen Zensur. Unter der Rubrik „Überhaupt nichts veröffentlichen oder erwähnen“ figurierte das Stichwort Katyn. Für Giereks Zensor ging es hier um ein Gebot der Staatsraison - die argwöhnisch mitlesenden Kollegen in der Sowjetunion sollten keinesfalls beunruhigt werden. Dieses verordnete Schweigen angesichts eines Verbrechens, über das jedes Schulkind in Polen - freilich nicht durch den Unterricht - Bescheid wußte, unterhöhlte die sowieso schon schwache moralische Autorität der polnischen Kommunisten. Ihr Antifaschismus war unglaubwürdig, denn er schloß das Schweigen über die sowjetischen Vernichtungslager ein. Für nicht wenige Polen wurde, ungeachtet der Naziverbrechen, Katyn zu dem Signum des Massenmords. Das späte Eingeständnis der sowjetischen Regierung, die Massenerschießungen polnischer Offiziere seien vom NKWD und von Beria persönlich zu verantworten, werden kaum zu einem Umschwung im Verhältnis der Polen zu den Russen, gar zu einer Katharsis beitragen. Zu offensichtlich sind die Halbheiten und Sicherheitskautelen in den sowjetischen Erklärungen.
Man spricht von Dokumenten, die „erst kürzlich“ bzw. „in allerletzter Zeit“ in den Archiven aufgefunden worden seien
-als ob es nicht seit Jahrzehnten erdrückende Indizien dafür gegeben hätte, daß nicht die Nazi-Faschisten, sondern der sowjetische Geheimdienst die Mordtaten verübte. Entsprechend findet sich kein Wort der Erklärung und Entschuldigung dafür, daß zwei Generationen lang die Polen gezwungen wurden, sich dem würdelosen und erniedrigenden Schweigegebot zu fügen. In der Konzentration der Verantwortung auf den NKWD und seinen Chef Beria wird auch der internationale Zusammenhang des Verbrechens ausgeblendet. Sikorski, Polens Regierungschef im Exil, hatte Stalin wiederholt nach dem Verbleib der polnischen Offiziere gefragt und nach der Exhumierung der Leichen durch die Nazis eine Untersuchung gefordert. Stalin nutzte diese Gelegenheit, um die Beziehungen zu Sikorski und damit zur Exilregierung abzubrechen. Sie waren für ihn nur noch Faschistenfreunde.
Von Katyn führt eine gerade Linie zur Bildung der prokommunistischen Gruppierung, die im Juli '44 sich zur einzig legitimen Vertretung Polens erklärte und dank der Sowjetunion diesen Anspruch auch durchsetzte. Aber nicht nur die sowjetische Regierung, auch die sowjetischen Menschen, die seinerzeit Zeugen des Verbrechens wurden, sind von einer rückhaltlosen und offenen Haltung weit entfernt. In Andrzej Wajdas eben fertiggestelltem Dokumentarfilm über Katyn ist das Schweigen der Zeugen fast ebenso bedrückend wie der Zynismus des NKWD-Verantwortlichen. Aber schließlich umarmt in Wajdas Film die weißrussische Bäuerin, die sich an nichts erinnern kann, die weinende Polin, die nach so langer Zeit das Grab ihres Vaters besuchen kam. Das Stalinsche System hat nicht nur gegen die Polen gewütet sondern auch und in erster Linie gegen die Völker der Sowjetunion. Die sowjetischen Demokraten und Sozialisten, die mit der Demokratie auch die Aufklärung der stalinistischen Verbrechen ohne Wenn und Aber fordern, sind die natürlichen Verbündeten der polnischen Demokratie. Sie, die Aktivisten der „Memorial“ und anderer Basisgruppen, haben nicht erst unter dem Eindruck einer militärischen Niederlage oder um sich einer Besatzungsmacht gefällig zu zeigen, mit der Erforschung der Verbrechen der eigenen Nation begonnen. Sie
-und nicht die halbherzigen Manöver der sowjetischen Regierung - könnten das Verhältnis zwischen Polen und Russen endlich auf den richtigen Weg bringen.
Christian Semler
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