Fetisch Stabilität

Der Brief von Kohl und Mitterand an den litauischen Präsidenten Landsbergis  ■ K O M M E N T A R E

Inhalt und Stil des gemeinsamen Briefs von Kohl und Mitterand an Präsident Landsbergis sind nicht geeignet, eine Lösung des festgefahrenen litauisch-sowjetischen Konflikts zu erleichtern. Statt Gorbatschow und Landsbergis gleichzeitig Vorschläge zu unterbreiten, wird Litauen einseitig und paternalistisch darüber belehrt, welche Konzessionen angebracht wären. Die Litauer erfahren aus dem Brief, daß ihnen aus ihrem Willen zur Unabhängigkeit „kein Vorwurf gemacht werden kann“. Nach dieser wahrhaft großartigen Unterstützung folgt der Rat, die Auswirkungen der vom litauischen Parlament gefaßten Beschlüsse eine Zeitlang auszusetzen. Juristisch ist dieser Ratschlag rätselhaft. Bedeutet er, daß die Unabhängigkeitserklärung vom 11.März zu den genannten Beschlüssen gehört, oder sind die Beschlüsse gemeint, die der Unabhängigkeitserklärung folgten? Was heißt „Aussetzung der Auswirkungen“? So schwammig der rechtliche Gehalt der Empfehlung ist, so eindeutig ihr politischer. Die Litauer sollen sich im Interesse der internationalen Stabilität auf einen „Entflechtungsprozeß“ zu sowjetischen Bedingungen einlassen. Dem Präsidenten Landsbergis wird versichert, die Beschlüsse des Parlaments von Vilnius verlören durch die Aussetzung „nichts von ihrem Wert“ - man vermeidet den eindeutigen Begriff „nichts von ihrer Gültigkeit“ und begibt sich damit auf das unverbindliche Feld des moralischen Zuspruchs.

Dabei hat die litauische Seite mit ihrem Angebot, der Wehrpflicht litauischer Soldaten in der Sowjetarmee zuzustimmen, wenn sie in Litauen selbst abgeleistet wird, einen Kompromiß vorgelegt, der das strittigste Problem entschärfen könnte. Statt hier wie bei anderen Problemen etwa dem litauischen Grenzschutz - mit Hilfe der vielgerühmten diplomatischen Diskretion gute Dienste zu leisten, äußert man Sympathiegefühle, beste Wünsche - und übt öffentlichen Druck aus. Das Schreiben Mitterands und Kohls steht in der Tradition einer überwunden geglaubten Politik, die einer scheinhaften Stabilität den Vorrang vor den demokratischen Hoffnungen der Völker gibt. Daß Mitterand nun auch in dieser Frage auf den faulen Realismus der deutschen Politik einschwenkt, wirft ein grelles Licht auf die Freiheitsliebe des „Florentiners“. Wird diese Linie weiter verfolgt, so werden Frankreich und die BRD zu einer friedlichen Neuordnung im Baltikum zwar nichts beitragen, dafür aber die Achtung der dort lebenden Menschen verlieren.

Christian Semler