FÜR NEUE MENSCHEN

■ „Konzert! Oder: Wie verhält sich Musik zur Öffentlichkeit?“ - Fünfmal nachgefragt im Hebbel-Theater

Sie alle waren zur Stelle. Die Intendantin: pragmatisch praktisch positiv. Die Künstler: freundlich verbindlich zerstreut. Und die Kritiker: übersatt und überdrüssig. Eine Pressekonferenz wie im Bilderbuch. Nur eines war diesmal ganz anders als sonst: es gab am Ende fast ein Gespräch, bei dem die Herzen offen auf den Tisch des Hauses gelegt wurden.

Der Kritiker fing damit an: klagte sein Leid, tagaus tagein schreiben zu müssen über Dinge, von denen er nichts versteht. Er solle ja urteilen über alles, was neu ist, gleich nach dem ersten Augen- und Ohrenschein. Sein Ideal also wäre etwa der Verein für musikalische Privataufführungen, wie er 1918 von Arnold Schönberg gegründet worden war - elitär, exklusiv und exquisit. Im Zentrum dieser Aufführungen stand das Kunstwerk, einfach so an und für sich. Es wurde so gut wie möglich gespielt und oft wiederholt, auf daß jeder damit richtig bekanntgemacht werden möge. In den Vereinsstatuten, die Alban Berg dazu entwarf, hieß es unter anderem:

„a) die Aufführungen sind in jeder Hinsicht nicht öffentlich. Gäste (auswärtige ausgenommen) sind ausgeschlossen. Besprechungen der Aufführungen in Zeitungen sowie jede Reklame für Werke oder Personen unzulässig. b) Bei den Aufführungen sind alle Beifalls-, Mißfalls- und Dankesbezeugungen ausgeschlossen. (...) d) Das Programm der einzelnen Konzerte wird vorher nicht bekannt gegeben.“

Heute abend um 20 Uhr laden die Freunde guter Musik e.V. ins Hebbeltheater, zu einem Konzert über eben diesen Verein. Freilich sind sie nicht so päpstlich wie der Papst. Die Öffentlichkeit ist herzlich eingeladen, das Programm vorher bekanntgegeben worden: und zwar spielt die Konzertvereinigung Berlin-Bodensee erstens Schönbergs Orchesterstück opus16 und zweitens Mahlers Vierte Sinfonie, nur ist das Besondere daran, daß es nicht die Originale sind, sondern Bearbeitungen - Arrangements für kleine Besetzung, wie sie eben weiland im Wiener Privatverein praktiziert wurden (denn mit dem Begriff der Werktreue sprang man schon dort nicht mehr ganz so prüde um). Ein schönes Konzert also, ein feines Konzert, eines von der Art, wie wir sie uns schon immer gewünscht haben. Und was noch schöner ist: Es ist nur eines von fünfen. Vorgestern gab es schon eine sogenannte Gala, gestern eine Matinee mit Musik aus der Vor- und Frühgeschichte des Konzertbetriebs von Biber bis Bach (selbstredend Carl Philipp Emmanuel) sowie eine Soiree aus der Endzeit des Konzerts (Cage etc.). Für den morgigen Dienstag aber ist die Leichenschau angesetzt: da wird Glenn Gould antreten gegen Herbert von Karajan. Freilich handelt es sich dabei um ein Medienkonzert, denn die beiden Künstler können naturgemäß nur noch als Konserven in den Ring geschickt werden.

Alle fünf Konzerte zusammen machen das Erste Festival der Gesellschaft für musikalische Gegenbeispiele aus. Eine Gesellschaft, die es, wie der Name schon sagt, eigentlich gar nicht gibt, die sich für diesmal aber vorgenommen hat, beim Publikum einen heilsamen Schock auszulösen oder wenigstens etwas Verwunderung darüber, daß es so etwas Widersinniges wie Konzerte immer noch gibt, und darüber, was es selbst darin zu suchen hat: concertare hieß ursprünglich miteinander streiten. Aber Streit gibt es schon lange nicht mehr, höchstens etwas Klatsch in der Pause, vorne auf dem Podium spielt die immergleiche Handvoll Musiker immer die gleichen Stücke - und auf jeden, der vorne Musik macht, kommen im Saal zehn bis hundert oder tausend, je nachdem, die gar nichts tun oder bestenfalls zuhören.

Die Klage der Künstler auf der Pressekonferenz: Tendenziell würden sie arbeitslos, sie stünden auf verlorenem Posten selbst das tote Konzert in der klassischen Tradition der Museumsmusik sei ja ein auslaufendes Modell im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Halb aus Spaß wurde da geklagt und mit einem koketten Lächeln in den Mundwinkeln: Immerhin ist es das erklärte Ziel der Gesellschaft für musikalische Gegenbeispiele, Allerweltswahrheiten zu widerlegen. Wenn alle Konzerte tote Hose sind, so reichen ja schon diese fünf Festivalkonzerte aus, um zu beweisen, daß der Satz so nicht stimmt. Im Prinzip: Hoffnung.

Die Intendantin jedenfalls, und sie war als einzige von Berufs wegen zum Optimismus verpflichtet, ist guten Mutes: Auf daß wieder neue „andere Menschen in die Konzerte“ kommen mögen, versprach sie tröstend der versammelten Runde: „Wir bleiben im Geschäft.“ Wunderbar, dann soll sie doch gleich das ganze Festival zur Wiederholung noch einmal fürs Hebbel -Theater engagieren und diesmal ganz große Plakate aufhängen überall in der Stadt.

Elisabeth Eleonore Bauer

Das erste Festival der Gesellschaft für musikalische Gegenbeispiele klingt aus mit Schönberg/Mahler, am heutigen Montag, und Gould/Karajan, am morgigen Dienstag, jeweils um 20 Uhr im Hebbel-Theater, Telefon 2510344. Karten kosten 20/15 DM an der Abendkasse.