„Zwei Arme“ für einen Zwölfzylinder

Autoversicherungen und Justiz haben sich bei Schmerzensgeldansprüchen zu einer Sparallianz zusammengeschlossen / Für Unfallopfer bleibt häufig nur ein besseres Taschengeld übrig  ■  Von Stephan Schulz

Der 18jährige Motorradfahrer Michael T. hatte Pech. Die Autofahrerin wollte mit ihrem nagelneuen Zwölf-Zylinder-BMW in die Bundestraße einbiegen, aber sie nahm die heranrauschende Honda des Abiturienten gar nicht wahr. Die Straße war feucht, zum Ausweichen zu wenig Zeit. Kurz auf die Bremse, dann kracht's. Die schwere Limousine wird um 180 Grad herumgeschleudert. Nach einem Flug von zehn Metern knallt Michael T. auf den Asphalt. Als er im Hubschrauber aufwacht, realisiert er noch nicht, daß sein linker Arm gelähmt ist - dazu wird er Monate brauchen.

Letztes Jahr zählte das Statistische Bundesamt 7.991 Tote auf bundesdeutschen Straßen, 107.831 wurden schwer verletzt und 341.423 leicht. Zusammen etwas mehr als die Einwohnerzahl von Nürnberg.

Die Opfer dieser institutionalisierten Straßenschlacht haben auch nach den wochen- und monatelangen Krankenhausaufenthalten keinen Anspruch auf schonende Behandlung, denn dann beginnt der Kampf mit den Versicherungen um eine angemessene Entschädigung. Für die Assekuranzen, so sollte man meinen, bleibt zwar bei knapp 35 Millionen beitragspflichtigen Kraftfahrzeugen (Tendenz weiter steigend) noch genug Profit, zumal von den 450.000 Verletzten nicht mal ein Viertel entschädigungsberechtigt ist. Über drei Viertel sind an ihren Unfällen selber schuld und bekommen nichts.

Schmerzensgelder bieten als beeinflußbarer Posten die Möglichkeit der Kostenminimierung. Die Betroffenen, Opfer wie Unfallverursacher, wundern sich dann, warum Haftpflichtversicherungen mit Deckungssummen von insgesamt ein, zwei oder gar siebeneinhalbb Millionen pro Unfallbeteiligten abgeschlossen haben: Ein amputierter Unterschenkel kostet die Versicherung zwischen 60.000 und 75.000 D-Mark an Schmerzensgeld, ein Auge um die 50.000. Was den gelähmten Arm des 18jährigen Michael T. angeht, so einigen sich Justiz und Versicherer für gewöhnlich auf den „Augentarif“. Bei der Bemessung der Entschädigungssätze müssen sich die Gerichte an vergleichbaren Fällen orientieren, wie sie etwa in den jährlich erscheinenden Schmerzensgeldtabellen aufgeführt sind. Helmut Krumbholz, Richter am Landgericht München: „Natürlich würden wir gerne großzügiger regulieren, aber das hat keinen Sinn, wenn das Urteil in der nächsten oder übernächsten Instanz wieder aufgehoben wird.“ Ein Kollege findet die Beträge gar „skandalös niedrig“.

Die Gerichte der unteren Instanzen sind zudem an die durch den Bundesgerichtshof vorgegebenen Leitsätze gebunden. Schmerzensgeld dient dem Ersatz des immateriellen Schadens, materielle Folgelasten muß die Versicherung des Schuldigen sowieso tragen. In der Juristensprache wird ihm die Funktion einer „billigen Entschädigung in Geld“ zugewiesen. „Stimmt“, wird sich Michael T. gedacht haben, der für den Rest seines Lebens den privilegierten Status des Schwerbehinderten (70 Prozent) innehat. Dabei sind die vom Bundesgerichtshof angewandten Kriterien an sich korrekt: Der Grad der Lebensbeeinträchtigung wird gemessen an der Schwere der Verletzungen und Operationen, der Dauer des Krankenhausaufenthaltes, der Intensität und Dauer der Schmerzen, an Entstellungen und psychischen Folgen, der Höhe des Dauerschadens, am Arbeitsausfall; auch verminderte Heiratschancen und Beeinträchtigungen beim Sport werden berücksichtigt. Am Ende wird das Interessenbündel des Unfallopfers gegen das, was dem Schädiger - konkret: seiner Versicherung - zumutbar ist, abgewogen. In dessen Waagschale haben die Bundesrichter den bleischweren Begriff „volkswirtschaftliche Auswirkungen“ gelegt.

Getrieben wurden sie dabei von der Sorge um die kostentreibende Auswirkung einer „explosionsartigen Aufblähung der Schmerzensgeldansprüche“. Man scheute sich nicht, das Umfeld des wichtigsten deutschen Industriezweiges zu stören. In der BRD hängt insgesamt jeder dritte Arbeitsplatz mit der Automobilindustrie zusammen.

Vom zuständigen Richter am Oberlandesgericht München, Bernhard Meyer, war auch auf allgemeinste Fragestellungen zum Thema keine Auskunft zu erhalten.

Der ADAC-Jurist Peter Böhm, Mitherausgeber der Schmerzensgeldtabellen, findet, der Bundegerichtshof habe „das Thema unglaublich naiv angegangen“, denn das Schmerzensgeld mache nur „etwa sieben Prozent an den Gesamtausschüttungen der Versicherungen aus“. Würde es „für schwere Verletzungen verdoppelt, entspräche das einem Anstieg der Prämien von vielleicht einem Prozent“.

Trotzdem scheinen die „Freunde fürs Leben“ nichts mehr zu fürchten, als hohe Schmerzensgeldurteile. Richter Krumbholz: „Seit '85 hatten wir in München so gut wie keinen Querschnitt mehr.“ Was die Versicherer motiviert, lieber gleich die gängigen Summen auszuzahlen, sei die Angst vor der Sogwirkung von Präzedenzfällen, auch auf die Masse der leicht verletzten Unfallopfer.

Doch vielleicht müssen die Versicherungskonzerne bald etwas angemessener „regulieren“. Das Landgericht Heidelberg hat die Allianz verdonnert, einem vor drei Jahren verunglückten, mittlerweile achtzehnjährigen Querschnittsgelähmten 300.000 DM plus 600 DM monatlich zu zahlen. Zuerst hatte die Versicherung 20.000 DM geboten, dann auf 80.000 erhöht.

Dem von einem Lastwagen überfahrenen Mädchen querschnittgelähmt, Hirn- und Lungenschaden - erkannte das Landgericht Oldenburg vor kurzem 500.000 DM zu. So viel gab's noch nie in der BRD. Beide Urteile sind rechtskräftig.

Ob sich hier tatsächlich ein Sinneswandel in der Rechtsprechung ankündigt, ist allerdings fraglich. Derzeit jedenfalls gilt immer noch das Prinzip: Autoblech geht vor Gesundheit. Für den Zwölf-Zylinder-BMW, dessen Halterin den Unfall des Schülers Michael T. verursacht hat, zahlte die gleiche Versicherung, Abteilung Vollkasko, umgehend 111.000 DM, macht nach der üblichen Schmerzensgeldkalkula tion zwei Arme.