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Verquaste Kulturkritik

■ betr.: "Ihr Altlinken!" von Tine Stein, taz vom 5.5.90, Leserbrief von Mathias Bohn, taz vom 22.5.90

betr.: „Ihr Altlinken“ von Tine Stein, taz vom 5.5.90, Leserbrief von Mathias Bohn,

taz vom 22.5.90

Debatte über „grün“ oder „links“ - meinetwegen. Auch die Kritik an der ökologischen und anderen Linken muß wohl sein. Aber bitte nicht diese verquaste Kulturkritik, wie sie Matthias Bohn abliefert. Von wegen „Vereinzelung der Gesellschaft“ (als Hauptursache der Wohnungsnot!), von wegen, daß wir „am Zusammenbruch aller sozialen Strukturen dieser reichen Gesellschaft“ leiden: Wo denn? Die Leute heiraten, kriegen Kinder wie verrückt; sie gehen wählen, die Schulen, Schützenvereine und Kneipen sind voll; also: wo?

Diese Kulturkritik, die sich als Gesellschaftskritik geriert und sich immer am Rande des Abgrunds wähnt, kennen wir seit der Französischen Revolution. Die Abschaffung des Feudalsystem zerstöre die „organische“ Gesellschaft und „atomisiere“ die Individuen, sagten die Monarchisten. In der Weimarer Republik finden wir diese Debatte von links bis rechts. Die Großstadt, die Industrie, die Parteien, der Pluralismus, der Rationalismus: Hier zerbreche die innere Einheit und kollektive Reinheit des Volkes. Die konsequentesten Vertreter dieser Anschauung, die den Krieg als „Verjüngungskur“ priesen und ein Volk von Dichtern, Bauern und Helden wollten, nennt man heute die „Konservative Revolution“. Für sie war das „System“ von Weimar so korrupt, daß nur eine Revolution die Apokalypse vermeiden konnte. Die Revolution haben sie bekommen, die Apokalypse auch.

Wenn eine Gesellschaft in der Krise ist, dann wollen offenbar alle Lösungsvorschläge immer besonders radikal sein und stoßen vielleicht deshalb immer wieder auf dieselbe Rhetorik. Deswegen reden Helmut Kohl und Ibrahim Böhme von der „Wende„; Matthias Bohn will sogar eine „Zeitenwende“ eine ökologische, versteht sich. Sonst gibt's den Zusammenbruch. Und alle sitzen wir angeblich in einem Boot. Diese Mischung aus Apokalypse und Erlösungshoffnung ist mir echt zu religiös. (...)

Thomas Mergel, Bielefeld

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