Noch sind die Ungarn freundlich zu Flüchtlingen

Weiterhin kommen über 2.000 Flüchtlinge im Monat aus Rumänien in Ungarn an und hoffen darauf, in westlichen Ländern aufgenommen zu werden / Mit der Wirtschaftskrise deutet sich aber ein Stimmungswandel in der Bevölkerung an / Bischof Tökes gründet Stiftung für Rückkehrer  ■  Aus Budapest Tibor Fenyi

Der Mann nahm einen Benzinkanister, goß den Inhalt über seinen Körper und zündete sich selbst an. Obwohl zur brennenden Fackel geworden, konnte er gerettet werden. Es handelte sich um einen Rumänen, der vor zwei Wochen der US -amerikanischen Botschaft dagegen protestieren wollte, daß kein westliches Land ihn aufnehmen wollte. Durch seine verzweifelte Tat versuchte er, die Aufmerksamkeit auf die aussichtslose Lage zahlreicher rumänischer Staatsbürger zu lenken. Seit Februar 1988 nimmt Ungarn die Flüchtlinge des Ceausescu-Regimes auf: ungarische und rumänische gleichermaßen. 40.000 Flüchtlinge setzten sich ohne Reisepaß über die ungarisch-rumänische grüne Grenze ab.

Anfangs waren es Angehörige der ungarischen Minderheit in Rumänien, die Kopf und Kragen riskierten. Bald stieg aber auch die Zahl der Rumänen an. In den Wochen vor der Weihnachtsrevolution 1989 machten sie mehr als 65 Prozent der Flüchtlinge aus. In Ungarn wurden alle Flüchtlinge anfangs mit starkem Mitgefühl aufgenommen, bald aber nahm die Begeisterung ab. Das größte Problem hat Ungarn mit ihrer Unterbringung: infolge der Wirtschaftskrise wurden in den letzten Jahren praktisch keine Sozialwohnungen gebaut. Und besonders schwierig wurde es, als klar wurde, daß die europäischen Flüchtlinge, die jenseits von Ungarn eine Heimat suchen, nur recht selten aufgenommen werden.

Der überwiegende Teil der Rumänen will jedoch nicht in Ungarn bleiben. Da atmeten die Mitarbeiter des Amts für Flüchtlingswesen in Ungarn nach dem Sieg der Dezemberrevolution auf: Jederman rechnete damit, daß die Flüchtlingswelle verebben und das Gros der früheren Landesflüchtigen bald in die Heimat zurückkehren würde.

Jedoch das Gegenteil ist eingetroffen: Ungarischen Angaben zufolge sind bloß 864 Rumänen in ihre Heimat zurückkehrt, während gleichzeitig weitere zehntausend Menschen Rumänien verlassen haben, davon allein 4.000 im April und noch 2.265 im Mai. „Es ist ganz selbstverständlich, daß die Flüchtlinge nicht zurückkehren; das Iliescu-Regime hat über nebulöse Versprechen hinaus nichts dafür getan, daß diese Leute ihre zurückgelassene Habe, Wohnung oder ihren Arbeitsplatz zurückerhalten“, erklärt Istvan Markus, Mitarbeiter des Ungarischen Amts für Flüchtlingswesen. Für viele Flüchtlinge stellt sich die Frage, ob die Veränderungen in Rumänien von Dauer sein werden, besonders seit den blutigen Ereignissen in Tirgu Mures.

Heute kommen die Leute mit dem Reisepaß in der Hand aus Rumänien. Anders als während des Ceausescu-Regimes kann ihn jetzt jedermann erhalten. Oberstleutnant Zubek, Sprecher der ungarischen Grenzwachen betrachtet dies als einen sehr großen Erfolg: Heute kämen nur mehr zehn bis zwanzig Flüchtlinge ohne Reisepaß über die grüne Grenze. Gleichzeitig scheint sich die Ordnung auch an der Westgrenze wieder einzupendeln. „Bei diesem Grenzabschnitt kam es bis zum 30.April zu 1.086 'Bewegungen‘, von den illegalen Grenzübertretern wurden 781 Personen festgenommen, 223 konnten nach Österreich gelangen.“ Wer festgenommen wird, kommt mit einer Verwarnung davon, eine Geldstrafe wird erst beim zweiten Versuch fällig. Die österreichischen Behörden machen es sich leicht. Sie schieben jeden illegalen Grenzüberschreiter einfach nach Ungarn ab.

So müssen die Ungarn das Problem allein bewältigen. „Allein in Budapest haben wir im letzten Monat rund 6.000 rumänischen Staatsbürgern die Arbeitsgenehmigung in Ungarn erteilt. Weitere Tausende wollen hier eine Universität oder Hochschule besuchen, da ihnen ja auch das neue rumänische Regime den Unterricht in ungarischer Sprache untersagt“, erklärt Frau Dobos, zuständig für die Flüchtlinge. Einem früheren Abkommen zufolge ist die ärztliche Behandlung auf beiden Seiten unentgeltlich zwischen Ungarn und Rumänien dieses Abkommen wurde jedoch seinerzeit lediglich für Touristen abgeschlossen. „Der Mangel an Arzneien ist in Rumänien noch immer katastrophal, auch wenn sich die Lage im Vergleich zu früheren Jahren einigermaßen gebessert hat. Angesichts der Reisefreiheit kommen jedoch allmonatlich Tausende nach Ungarn, um sich hier behandeln zu lassen, selbstverständlich unentgeltlich.“

Die Besorgnis der Ungarn angesichts des pausenlosen Flüchtlingsstroms, der legalen und illegalen Einwanderer wächst an, um so mehr, als die Regierung erklärt hat, die Arbeitslosigkeit werde bald 300.000 erreichen, gleichzeitig aber müssen die Ausgaben für Staatshaushalt und Sozialwesen auf Wunsch des Internationalen Währungsfonds gedrosselt werden. Seit der Revolution gewähren die westlichen Hilfsorganisationen den Flüchtlingen keinerlei Unterstützung - die Spenden werden nach Rumänien geschickt.

„Da die Regierung nicht genug leistet, sind wir gezwungen, den ersten Schritt zu tun“, sagt Laszlo Tökes, calvinistischer Bischof und Auslöser der Revolution gegen Ceausescu. Auf einer Pressekonferenz in Budapest erklärte er, zusammen mit Andras Sütö, Schriftsteller und Herder -Preisträger, werde er eine Stiftung zwecks Unterstützung der nach Rumänien Zurückkehrenden zustande bringen. Die massive Rückwanderung sei nur angesichts einer Besserung der Lage möglich, so Tökes. „Es ist auch für Rumänien gut, wenn der Exodus von vielen Zehntausenden nicht weitergeht.“ Wahrscheinlich setzt der Bischof seine Hoffnungen darauf, daß die Länder, die Tor und Tür vor den Rumänen versperrt haben, eher bereit wären, die Heimkehrer zu unterstützen, als mit der Gefahr einer neueren, mehrere zehntausend Menschen bedeutenden Flüchtlingswelle zu leben.