: Mit einem Gefühl von Ohnmacht abgestimmt
Die Wahl Wolfgang Thierses zum Parteivorsitzenden auf dem Parteitag der SPD war ein Protest gegen den Vorstand / Die Kritik „lieber kämpferisch in der Opposition“ wurde von den Jusos unterstützt / Bildung eines Vereinigungsausschusses soll zeigen, daß die Sache läuft ■ Von Brigitte Fehrle
Halle (taz) - Es war ein Protest mit dem Stimmzettel. Daß die Basis auf dem Parteitag der Sozialdemokraten Ost mit solch überwältigender Mehrheit den Kandidaten Wolfgang Thierse zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt hat, kann der sich nur zum Teil auf sein persönliches Konto schreiben. Die Delegierten wählten Thierse und kritisierten damit die bisherige Führung. Viele haben sich nicht gegen die Kandidaten Timm und Brinksmeier entschieden, sie haben symbolisch gegen den Vorstand gestimmt. Es war die Chance, ihr Empfinden über Abgehobenheit, Alleingänge, Distanz zwischen Führung und Basis zu kritisieren. Und es war ein Protest gegen die Geschwindigkeit, mit der die Partei die Koalitionsverhandlungen mit der CDU geführt hat und die fehlende Rückkopplung mit der Basis. Das Gefühl von Ohnmacht drückte sich im Kreuz auf dem Stimmzettel aus.
Nur wenige brachten diese Kritik an Parteivorstand und Fraktion, an „den Berlinern“, lautstark zum Ausdruck: „Ich hätte uns lieber ehrlich kämpfend in der Opposition gesehen“, sagte Käte Woltemath aus Rostock, Sozialdemokratin schon vor der Zwangsvereinigung von SED und KPD, in der einzigen kämpferischen Rede, die auf diesem Parteitag gehalten wurde. Die „störrische Alte“, wie sie sich selbst nannte, machte den Parteitag zu einem Sozialdemokratischen Parteitag. Sie war auch die einzige, die von dem halben Dutzend Jusos, die sich unter den 414 Delegierten verloren, jubelnd beklatscht wurde.
Die Rechenschaftsberichte von Vorstand, Fraktion und Regierung wurden von den Delegierten ohne große Resonanz entgegengenommen. Richard Schröder rechtfertigte noch einmal, warum die SPD „zu keiner Zeit Gelegenheit hatte, ohne die DSU in die Regierung zu gehen“. Lothar de Maiziere habe die Partei an einen Tisch eingeladen, „der schon besetzt war“, sagte Schröder. Die letzten Monate seien ein „Härtetest“ gewesen, begleitet „vom tragischen Rücktritt Ibrahim Böhmes“. Schröder war neben Hans-Jochen Vogel der einzige, der den vorherigen Parteivorsitzenden überhaupt erwähnte.
Außenminister Meckel, der in seinem Bericht feststellte, „daß es etwas anderes ist, eine Regierung zu stürzen, als selbst zu regieren“, und „nie wieder unter einem solchen Zeitdruck“ verhandeln will, möchte bei der deutschen Einheit langsam vorgehen. Erst einmal brauche man gute Länderverfassungen, meint er, „das kostet Zeit und Reflexion“.
Schelte von einigen Delegierten bekamen sowohl Schröder als auch Meckel. Eine Delegierte beschwerte sich über Meckels „unvorbereitete langatmige Rede“ und fragte, ob der Parteitag nicht Besseres zu tun habe, als sich derartige Beiträge anzuhören.
Der Bericht des Vorstandes von Karl-August Kamilli hob sich wohltuend durch seine Deutlichkeit ab. Im Gegensatz zum Fraktionsvorsitzenden Schröder fand er, daß die SPD mit dem Wahlergebnis vom 18.März „weit unter ihren Möglichkeiten“ geblieben sei. „Die Partei konnte die Erwartungen, die die Leute in sie gesetzt haben, nicht erfüllen“, meinte Kamilli und machte dafür die schlechte Organisationsstruktur verantwortlich. Man habe den Wählern die Inhalte nicht nahebringen können. Die Mitgliederzahlen, derzeit sind es etwa 38.000, stiegen nicht mehr, und es gebe „Freunde, die sich aus der aktiven Parteiarbeit verabschiedeten“. Es gehe jetzt darum, sich Gedanken darüber zu machen, warum „gute Sozialdemokraten die Partei verlassen“. Einige Antworten gab er dann selbst: Viele an der Basis fühlten sich von dem schlechten Wahlergebnis alleingelassen. Mit Unverständnis nehme man zur Kenntnis, wenn das „Zusammenwirken“ von Vorstand, Fraktion und Parteirat „dieses Wort nicht verdient“. Er vermißt auch den „angemessenen Dialog“ mit der Basis.
Das fand auch Willi Brandt, der in seiner Rede mit dem programmatischen Titel „Perspektiven der Sozialdemokraten in Deutschland“ ganz praktisch wurde: „Werbt Mitglieder“, rief er den Delegierten zu „und sammelt Beiträge!“. Und dann gab er noch die Linie vor - „wenn ich darf“ -, wie sich die Einigung der großen und kleinen SPD-Schwestern vollziehen soll. Man solle sich nicht von der „Hektik anderer“ anstecken lassen, sagte er, aber durch die Bildung eines Vereinigungsausschusses beider Parteien zeigen, „daß die Sache läuft“. Der Parteitag solle auf jeden Fall beschließen, daß er die Vereinigung will.
Mit nur zwei Gegenstimmen wurde der neue Parteichef Thierse aufgefordert, sich sofort mit seinem West-Kollegen zu treffen, mit dem Ziel, „baldmöglichst“ die Vereinigung einzuleiten. So war man die leidige Diskussion um Termine los und hat freie Hand, auch wenn der 2.Dezember wider den Willen der Sozialdemokraten in Ost und West doch schon zum Tag gesamtdeutscher Wahlen werden sollte. Denn daß man den zukünftigen Wahlkampf mit einer Sozialdemokratischen Partei führen will, ist klar, daß der Kanzlerkandidat der SPD-Ost Lafontaine heißen sollte, daran ließen die Delegierten mit ihrem Beifall keinen Zweifel. Der Saarländer muß dann den Wunsch des Vorstandsmitglieds Christof Matschie erfüllen: „Eindeutiges Profil als Alternative zur CDU.“
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