: „Jede Zigarette mußten wir aufsammeln“
■ Ein Berufsleben im eingemauerten Halbdunkel: Zwei Angehörige der Ostberliner Transportpolizei erzählen über ihren Dienst auf den Geisterbahnhöfen, die ab Sonntag wieder zu neuem Leben erwachen
Ost-Berlin. Knapp zweieinhalb Jahrzehnte verbrachten VP -Obermeister Kirstein (49) und VP-Obermeister Thomas (53) vom Transportpolizeirevier Friedrichstraße ihre Dienstzeit auf den ehemaligen Geisterbahnhöfen unter dem Pflaster von Ost-Berlin.
In einem Gespräch mit der taz kramten die beiden in alten Erinnerungen.
Kirstein: Meinen ersten Dienst hatte ich am 3. Januar 1966 auf dem U-Bahnhof Friedrichstraße - und dann gleich Nachtschicht! Also, ich kam da runter, alle paar Minuten donnerte ein Zug vorbei, die Luft war stickig, und zu tun war überhaupt nichts. Wie lange soll man denn so was aushalten, hab‘ ich mir gedacht. Also ehrlich: Am liebsten hätte ich meine MP in die Ecke gestellt und wäre nach Hause gegangen.
Thomas: Mir ging das auch nicht viel anders. Bis Anfang '66 war ich beim Operativstab der Trapo tätig. Da war dauernd was los, da ging der Tag schnell rum, immer passierte irgendwas. Und dann wurde ich hierher abkommandiert. Hier hab‘ ich mir dann das Kaffeetrinken angewöhnt.
Kirstein: Wir waren ja immer zu zweit da unten, da dauerte es nicht lange, da kanntest du den Lebenslauf deines Kollegen besser als deinen eigenen.
Thomas: Da kam man manchmal vor Langeweile auf die seltsamsten Ideen.
Kirstein: Irgendwann im Sommer war die Luft da unten so stickig und heiß, daß man kaum noch atmen konnte. Uniformjacke ausziehen oder auch bloß die Ärmel hochkrempeln war nicht drin - da hätte bloß mal eine Kontrolle kommen brauchen, und schon hätte es Ärger gegeben von wegen der Kleiderordnung und so. Also hab‘ ich mir 'ne Gießkanne geschnappt und den gesamten Bahnsteig unter Wasser gesetzt. Plötzlich hält ein Zug, und der Fahrer ruft mir zu: „Da kannste gießen so viel du willst, hier wächst sowieso nüscht mehr!“
Thomas: Das war ja fast eine „unerlaubte Kontaktaufnahme“.
Kirstein: Jaja, das mußte alles gemeldet werden. Jede Zigarette, die aus einem Zugfenster geschmissen wurde, mußten wir aufsammeln und abgeben. Hatte sich einer aus dem Fenster gelehnt, war das eine „versuchte Kontaktaufnahme“.
Thomas: So entstand dann eine „Grenzlage“.
Kirstein: Die wurde dann mit den „Nachbarn“, also den Grenzern, abgestimmt.
Thomas: Wir waren nämlich nur für die „innerstädtischen“ Bahnhöfe zuständig, die Grenzbahnhöfe wurden von den Grenztruppen besetzt.
Kirstein: 1967 war das, glaub‘ ich, sind bei den Grenzern zweimal hintereinander die Wachmannschaften komplett in den Westen geflüchtet. Danach hatte man die Ärmsten dann eingemauert. Da wurde beispielsweise im U-Bahnhof Stadtmitte am unteren Ende der Treppe eine Mauer hochgezogen, ein paar Sehschlitze sicherten den wachsamen Blick Richtung Westen und das war's dann.
Thomas: Da hatten wir es doch bedeutend besser - wir konnten uns wenigstens auf dem Bahnhof frei bewegen.
Kirstein: Was man so als „frei bewegen“ bezeichnet. Einige der stillgelegten Bahnhöfe wurden nämlich als Lagerräume benutzt. So lagerten - ich glaube, das war 1964 - auf dem Bahnhof Weinmeisterstraße etliche Kästen mit Weihnachtsäpfeln, und der U-Bahnhof Jannowitzbrücke war mit Apfelsinen vollgepackt.
Thomas: Und der Bahnhof Französische Straße wurde irgendwann zu einer Art Gleisbaulager umfunktioniert.
Thomas: Die meiste Zeit waren wir sowieso auf dem Bahnsteig „unterwegs“.
Kirstein: „Beobachtung der durchfahrenden Züge“ hieß der Dienstauftrag. Und schnelles Handeln bei eventuellen Havarien.
Kirstein: Da war an so fast alles gedacht. Jeder Bahnhof hatte einen ihm zugewiesenen „Evakuierungsraum“. Für den Bahnhof Oranienburger Platz war das zum Beispiel die Gaststätte „Bärenschänke“, für die Station Jannowitzbrücke das „Marinehaus“ am Märkischen Ufer.
Thomas: Einmal kam es auf dem U-Bahnhof Friedrichstraße wegen eines festgelaufenen Radlagers zu einem Brand. Wir holten die Feuerwehr, doch das Zugpersonal lehnte die Hilfe ab. Nachdem sie das Feuer aus eigener Kraft gelöscht hatten, fuhr der Zug langsam in Richtung Kochstraße weiter. Genau auf der Grenzlinie entgleiste er dann. Das war vielleicht 'ne merkwürdige Situation: Die eine Hälfte des Zuges stand im Westen, die andere im Osten.
Kirstein: Aber das fiel schon nicht mehr in unseren Zuständigkeitsbereich, das war Sache der Grenztruppen.
Thomas: Das war überhaupt eine merkwürdige Kompetenzteilung - da, wo die Grenzer waren, durften wir nicht hin und umgekehrt. Hatte sich einer von uns mal versehentlich auf das Gebiet des anderen begeben, wurde er gleich festgesetzt.
Kirstein: Haben wir aber umgekehrt dann auch so gemacht.
Thomas: Die Grenzbahnhöfe waren eine besondere Tabuzone. Wenn beispielsweise irgendwelche Gleisbauarbeiten im Grenzbereich notwendig wurden, dann hatte man die Materialien nicht etwa über den nächstliegenden Einstieg vor Ort gebracht, sondern beispielsweise über die Bahnhöfe Französische Straße oder Oranienburger Tor.
Kirstein: Da hob dann ein Autokran die Schienen in den U -Bahn-Eingang hinunter, mit dem Kranausleger immer nur knapp unter der Straßenbahnoberleitung hantierend.
Thomas: Diese ganzen Transporte haben den eh nicht guten Zustand der Bahnsteige noch mehr verschlechtert. Aber das war ja eigentlich auch egal, schließlich hatte ja keiner damit gerechnet, daß sie so schnell wieder gebraucht werden.
Kirstein: Das ging ja dann auch alles ziemlich schnell. Ich war übrigens der letzte Postenführer auf dem U-Bahnhof Jannowitzbrücke, hab‘ die ersten Fahrgäste noch die Treppe runterkommen sehen. Das war irgendwie ein ganz merkwürdiges Gefühl, als auf einmal wieder ganz normale Leute auf den Bahnsteig durften. Ich bin da dann mit meiner Frau gewesen, habe ihr gezeigt, an welchen Stellen ich meinen Dienst gemacht habe, wo der Pausentisch stand... - plötzlich kann man wieder quer durch die ganze Stadt fahren. Klar, man war ja schon immer etwas neugierig, wie das hinter dem „weißen Strich“ aussieht, schließlich ist man der U-Bahn ja irgendwie verbunden. Das erste, was ich übrigens gemacht hatte, als ich nach dem neunten November rüberfahren durfte, war, die U-Bahn-Strecken abzufahren, an denen ich die ganzen Jahre meinen Dienst geschoben hatte. Seltsam - aus dem hellen Zug heraus war kaum etwas zu sehen.
Aufgeschrieben von Olaf Kampmann
Wir danken dem Transportpolizeiamt Berlin für die freundliche Unterstützung.
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