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„An der Mauer war es schön ruhig“

Spaziergänger entdecken ungläubig die Freiheit, sich im „Todesstreifen“ der Berliner Mauer herumzutreiben und ohne Kontrolle die Grenze zu überschreiten / Seit 1961 abgeschnitte Straßen wiedervereinigt / Abschied von einem Wahrzeichen  ■  Von Annette Zimmermann

„Ein faszinierendes Gefühl“, erklärt ein DDR-Bürger. Auf mehr als 100 Kilometer Mauerstreifen, wo Bauarbeiter seit einigen Tagen die alten, seit 1961 durchschnittenen Straßen wiederherstellen und die Betonreste der Mauer entfernen, gehen neugierige Spaziergänger hin und her. „Alles offen, alles offen“, sagt ein Mann ungläubig seiner Frau, die das auch gesehen haben muß. Seit ein paar Tagen kann man von der Ackerstraße Ost ohne Paßkontrolle in die Ackerstraße West rübergehen, man sieht von der Charlottenstraße Ost-Berlins direkt in die Charlottenstraße West-Berlins. An den alten Übergangsstellen stehen die Kontrollhäuschen der Grenzpolizei verlassen herum. Aber die direkten Anwohner der Mauer feiern keine Straßenfeste mit ihren neuen Nachbarn, die DDR-Bürger sind zurückhaltend, als fühlten sie sich eher gestört durch den nun freien Blick.

Frau Lehmann wohnt seit 12 Jahren gleich beim Checkpoint Charly. Als sie damals einzog, dachte sie nicht, „daß man überhaupt leben kann an der Mauer“. Die ersten Male rüberzugehen „war wie ein Wunder“. Dann kam der viele Verkehr, „man konnte kaum noch lüften“. Sie war noch ein Kind, als die Mauer gebaut wurde, erinnert sich jedoch sehr genau dran: „Die Älteren sagten, daß es unvorstellbar sei, Berlin in solcher Konsequenz zu teilen, und genauso wenig vorstellbar war es für uns, daß das Ding jemals wieder fallen wird.“ Inzwischen ist die Euphorie verflogen, „jeder mit dem ich gesprochen habe, hat Angst um seinen Arbeitsplatz oder um seine Rente. Das sind alles Dinge die uns neu sind, wir waren schön eingesperrt und behütet. Unnatürlich und unmenschlich waren diese vierzig Jahre.“ Und die Situation jetzt? „Wir konnten für die vierzig Jahre genauso wenig wie für den Zustand jetzt.“ Frau Lehmann hat immer SED gewählt, sie hatte Angst, nicht zur Wahl zu gehen: „Was ändert das, wenn ich als einzelner nicht hingehe?“ Nein, sie hat sich nicht engagiert, sie hatte Nachbarn, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, die wurden auf Schritt und Tritt überwacht. „Ausreise wäre für mich kein Weg gewesen.“

Herr und Frau Warsow wohnen gleich in der Nähe, in der Reinhold-Hahn-Str.14, wo der Hinterhof von einer riesigen Mauer zum Grenzstreifen hin abgegrenzt wird. Sie wohnen dort seit zehn Jahren. Die Wohnung in dem besonders kontrollierten Grenzstreifen bekamen sie damals zugewiesen, der Blick über die Mauer „hat nicht allzusehr gestört“. Seit Öffnung der Mauer „hat sich nicht viel geändert, na ja, man kann jetzt Besucher freier empfangen, aber früher haben wir viel ruhiger gelebt“. Was sie stört, ist, „daß so viel passiert und die Anlieger überhaupt nicht informiert werden“. „Die von der KWV wissen immer von nichts. Is‘ ganz gut, das mal einer von der Zeitung vorbeikommt, wir haben schon überlegt, daß wir das Problem publik machen wollen, wenn das so weitergeht.“

Gleich gegenüber in der Reinhold Hahn-Straße wohnt seit 1986 eine Familie mit zwei Kinder. „War ein bißchen komisch, als wir damals hergezogen sind, den Grenzübergang gleich vor der Nase, hat uns aber nicht weiter interessiert. Die Wohnung haben wir zugewiesen gekriegt, Hauptsache eine Wohnung.“

Und jetzt? „An die Veränderungen gewöhnt man sich verhältnismäßig schnell.“ Die Überwachungstürmchen aus Fertigbeton, von denen aus der Todesstreifen überwacht und nachts mit großen Scheinwerfern abgeleuchtet wurde, liegen auseinandergenommen da, Bauschutt. „Die haben uns früher immer geblendet“, sagt einer der Anwohner.

„Na Jottseidank kommt das weg!“ erklärt mir lautstark ein Rentner, der gerade eine „Fotosafarie aufm Grenzstreifen“ macht. „Det is‘ 'ne reine Baumaßnahme, daß detLoch jetzt hier zugemauert wird (gemeint ist der Grenzstreifen) und dann sind wa wieda Berlin!“ Früher „hat man die Mauer ja nicht weiter zur Kenntnis genommen, man is‘ zwar immer gegengelaufen, wenn man wohin wollte, aber trotzdem...“ Die ganzen Verbrecher kommen jetzt rüber, aber „das gehört wohl dazu, zur großen Freiheit Nr.7, nicht wahr?“

Aus der bisher fast rein deutschen Hauptstadt der DDR schlägt ihnen Skepsis entgegen. Ein junger DDR-Bürger: „Berlin ist 'ne multikulturelle Stadt geworden, nur das unsere Leute sich noch nicht daran gewöhnt haben. Alle sind total verunsichert. Der Alex ist voller Rumänen, und irgendjemand muß an allem Schuld sein. Also vor dieser Sündenbocksuche hab‘ ich 'n bißchen Angst.“ Die Anwohner der Mauer sind in ihrer Skepsis gefangen: „So im großen und ganzen is‘ des ja alles ganz toll, aber was da auf uns zukommt, weiß ja keiner.“

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