Der Held von Tschernobyl

■ Zum Tod eines längst vergessenen Hubschrauberpiloten

Tschernobyl, sowjetische Stadt in der Ukraine, wo sich am 26. April 1986 der bislang schwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Nutzung der Kernenergie ereignete. Nach der Explosion in einem der vier Reaktoren starben 31 Menschen, zahlreiche andere wurden verletzt. Viele tausend Bewohner der Stadt und ihrer Umgebung mußten als Folge radioaktiver Kontamination evakuiert werden. Der Unfall löste heftige Debatten über die Nutzung der Kernenergie aus. Ende der Durchsage.

So liest sich die offizielle und bis heute gültige lexikalische Version der Katastrophe von Tschernobyl. Das Zählen der Toten wurde beim Stand von 31 eingefroren. Diejenigen, die später starben, werden als Opfer von Lungenentzündungen, Krebs und Immunerkrankungen erfaßt. Die tatsächliche Zahl der Opfer wird niemals ermittelt werden. Schätzungen reichen von 250 Personen bis zu mehreren zehn oder hunderttausend Menschen. Das Leiden und Sterben in Tschernobyl ist aber noch lange nicht beendet, wie das Schicksal von Anatoli Grischtschenko erneut und eindrucksvoll zeigt.

Mit dem Tod von Grischtschenko, dem Hubschrauberpiloten von Tschernobyl, müßte allerdings selbst die offizielle Geschichtsschreibung von 31 auf 32 Opfer korrigiert werden, denn niemand wird leugnen können, daß zumindest dieser Mann „an Tschernobyl“ gestorben ist. Grischtschenko hat fünfmal jenen Hubschrauber gesteuert, aus dem Tonnen des Neutronen -Schluckers Bor auf die glühende Reaktor-Ruine geworfen wurden. Er ist einer jener Männer, die dafür gesorgt haben, daß nur vier Prozent des radioaktiven Inventars des explodierten Reaktors freigesetzt wurden. Man kann es auch anders sagen: Grischtschenko und mit ihm die Feuerwehrleute von Tschernobyl haben ihr Leben dafür gegeben, daß Europa bewohnbar bleibt.

In den kurzen Notizen der Zeitungen ist Grischtschenko als „Held von Tschernobyl“ verabschiedet worden. Die ihm von der Partei verliehene Auszeichnung „Held der Sowjetunion“ war in seinem Fall tatsächlich angebracht. Aber Grischtschenko und all die anderen waren Helden wider Willen. Und vielleicht wäre Grischtschenko niemals zum Helden geworden, wenn er gewußt hätte, welches Todeskommando sein Flug über den Reaktor-Krater ist und wie wenig ihn die Bleiplatten in seinem Hubschrauber vor diesem radioaktiven Höllenfeuer schützen. Gespürt hat er nur die Hitze.

Grischtschenko ist durch seine spektakuläre Knochenmarkstransplantation in den USA berühmt geworden. In der Sowjetunion wäre er wie viele andere einsam und vergessen krepiert.

Manfred Kriener