: Nicaragua wird unregierbar
■ Präsidentin Violeta Chamorro ordnet den Einsatz der Armee gegen die Streikenden an / Mindestens vier Tote und an die hundert Verletzte bei Auseinandersetzungen mit der Anti-Aufruhr-Polizei
Von Ralf Leonhard
Managua/Berlin (taz) - Nachdem am Montag Auseinandersetzungen zwischen streikenden ArbeiterInnen, bewaffneten Streikbrechern und der Anti-Aufruhr-Polizei mindestens vier Todesopfer und mehrere Dutzend Verletzte gefordert hatten, erwartete man Dienstag eine weitere Verschärfung der Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Streikenden. Präsidentin Violeta Chamorro hatte nämlich Verhandlungen mit den Gewerkschaftsführern abgelehnt und den Einsatz der Armee angeordnet. Die ArbeiterInnen forderte sie auf, sich Dienstag an ihrem Arbeitsplatz einzufinden. Unmittelbar darauf antwortete die Führung der „Nationalen Arbeiterfront“ (FNT) mit einem Kommunique, das die Bevölkerung aufforderte, „alle zivilen Kampfformen beizubehalten und auszuweiten“. Darüber hinaus verlangte die FNT, daß die am Freitag abgebrochenen Verhandlungen mit der Regierung wieder aufgenommen werden. Auch Ex-Präsident Daniel Ortega hatte im Namen der sandinistischen Führung eine Verhandlungslösung gefordert und alle Seiten zur Mäßigung aufgerufen.
Sämtliche Ministerien und die meisten Industriebetriebe waren gestern morgen noch in der Hand der Streikenden. Um den Zugang unmöglich zu machen, hatten streikende ArbeiterInnen und die mit ihnen sympathisierende Bevölkerung Barrikaden aus Pflastersteinen und brennenden Reifen errichtet. Laut Hernan Estrada, Nicaraguas ehemaligem Botschafter in Bonn, waren Teile von Managua unpassierbar. In der Nacht sollen weitere Barrikaden errichtet worden sein. Allgemein erwartete man, daß die Sandinistische Armee unter dem Oberbefehl Violeta Chamorros sich am Dienstag bemühen würde, die Barrikaden ohne Einsatz von Waffen zu entfernen. Die Polizei war am Montag an dieser Aufgabe gescheitert.
Ein Streik, der am 26.Juni als Arbeitskampf gegen unzureichende Lohnerhöhungen und Massenentlassungen begonnen hatte, entwickelt sich zu einer kaum mehr zu kontrollierenden Kraftprobe. Mehr als 100.000 ArbeiterInnen protestieren inzwischen. Einige davon haben sich bewaffnet, um Streikbrecher, die aus der Provinz hereingebracht werden, abzuwehren. „Wir sind am Sturz der Regierung nicht interessiert“, beteuerte Estrada, der feststellte, daß Daniel Ortegas Aufruf zur Mäßigung und zur Beseitigung der Barrikaden nicht befolgt worden sei.
Nachdem das öffentliche Leben und der internationale Flughafen und die Grenzübergänge lahmgelegt sind, drohen nun auch die Wasser- und Elektrizitätsarbeiter mit dem Sperren der Leitungen. Wenn schließlich auch die Telefonverbindung gekappt wird, könnte Nicaragua völlig unregierbar werden. An der westlichen Pazifikküste haben LandarbeiterInnen seinerzeit konfiszierte Baumwollfelder besetzt, die die Regierung an ehemalige Somoza-Anhänger zurückgeben will. Die Ablehnung der Landrückgaben gehört ebenso zum Forderungskatalog der Streikenden wie voller Ausgleich des Inflationsverlustes und Wiedereinstellung entlassener Angestellter.
Die Regierung weiß sich nur mit Repression und Zensur zu helfen. Der pro-sandinistische Radiosender „La Primerissima“ wurde geschlossen, das kritische TV-Nachrichtenprogramm Extravision durfte Montag nicht erscheinen. Der Polizei gelang es zwar, die streikenden FernseharbeiterInnen kurzfristig aus dem Studio zu entfernen, doch wenig später waren die Anlagen wieder besetzt.
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