Verfassungsdebatte im Nadelöhr

■ Die SPD versucht in Potsdam, „rechtspolitische Pflöcke“ für eine Verfassungsdebatte einzuschlagen Eine große Koalition sucht „neue Legitimation für große Aufgaben“

Aus Potsdam Götz Aly

„Eine neue Verfassung für Deutschland“, unter diesem Motto veranstaltete die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD am Wochenende einen rechtspolitischen Kongreß in Potsdam. Zwar ist der Veranstaltungsort mit demokratischen Traditionen nicht eben überfrachtet, aber wo soll man schon tagen, wenn man einerseits die Authentizität der DDR-Provinz sucht und andererseits die Nähe zu einem wenigstens einigermaßen funktionierenden Flughafen. Von den etwa 400 Teilnehmern waren mindestens 300 aus der Bundesrepublik eingeflogen. Ihre Zeit, „rechtspolitische Pflöcke einzuschlagen“ war knapp bemessen. Gekommen waren in erster Linie sozialdemokratische Juristinnen und Juristen, einige Herren von der CDU, eine Dame vom Demokratischen Aufbruch und einige Vertreter der Grünen und des Bündnisses90.

Initiatorin der Veranstaltung, die eine regelrechte Verfassungskampagne initiieren soll und die - den Erfolg vorausgesetzt - als „Potsdamer Kongreß“ den autokratischen Geruch der Stadt einmal mindern könnte, ist die Stellvertretende Vorsitzende der SPD (West), Herta Däubler -Gmelin. Ihr Verhältnis zu Oskar Lafontaine kann zumindest als speziell gelten. So daß sich die Frage stellt, ob der Kanzlerkandidat der SPD an einem Thema, das nun ausgerechnet von dieser Vorständlerin forciert wird, überhaupt interessiert ist. Wie auch immer: In einem gleichen sich die beiden feindlichen Geschwister, sie verlangen von der Volkskammerfraktion der SPD (Ost) mehr, als diese zu geben bereit ist, und beide erleiden eine schier gnadenlose Abfuhr.

Das in den letzten Wochen rasch entwickelte Konzept der Sozialdemokraten, die Verfassungsdiskussion mit dem zweiten Staatsvertrag zu verbinden, setzte zunächst darauf, einige wesentliche Grundgesetzänderungen und die dann folgende Prozedur per Staatsvertrag festzulegen. Wie das praktisch gedacht war, wird eher in den Redebeiträgen aus dem zweiten Glied deutlich. Einer der SPD-Juristen (West) sagt: „Wir haben keine politische Zweidrittelmehrheit für Grundgesetzänderungen. Der Schlüssel liegt bei der SPD der DDR.“ Wenn sie ihre Position in der Volkskammer ausnutze, sei das „keine sublimierte Erpressung“. „Das politische Geschäft erfordert es, Bedingungen zu stellen, es erfordert Machtbewußtsein.“ Ein anderer nennt als „Kernpunkt“: „Das Kamel der künftigen deutschen Verfassung muß durch das Nadelöhr des zweiten Staatsvertrages.“ Demgegenüber wendet ein sozialdemokratischer Abgeordneter der Volkskammer ein: „Ich sehe in keiner Bonner Kirche Gebete und Montagsdemonstrationen für eine neue Verfassung.“

Wieder einmal verlangten die Bonner Genossinnen und Genossen schlicht Unzumutbares: „30.000 Mann der DDR-SPD können eben nicht das machen, was andere versäumen.“ Im übrigen hätten die Bürgerinnen und Bürger der DDR im Augenblick, und vermutlich auf Jahre hinaus, ganz andere Sorgen... Der Vorsitzende der Ostberliner Volkskammerfraktion, Richard Schröder, hatte gleich in der Eröffnungsveranstaltung Tacheles geredet: Ein Junktim zwischen der Zustimmung zum zweiten Staatsvertrag und einer Änderung des Grundgesetzes werde es mit der DDR-SPD nicht geben, es komme überhaupt nicht infrage, deshalb die Koalitionsfrage zu stellen.

Däubler-Gmelin verrät ihr eher wahltaktisches Kalkül, wenn sie davon spricht, die deutsche Einigung sei eben „ein würdiger Anlaß, das Grundgesetz zu ändern“ und dann einen nicht mehr ganz neuen Katalog sozialdemokratischer Forderungen referiert. Aber die Diskutanten zeigen sich in der Lage, sich von diesen Vorgaben zu emanzipieren. Jedenfalls auf den Podien werden nicht einfach alle möglichen Änderungswünsche addiert, dort gerät die Frage nach der Integration und der Legitimation der neuen deutschen Republik in den Mittelpunkt der Debatte.

Angst

vor Legenden

Zweifelsohne sind es zur Zeit fast ausschließlich „die Regierungen, die am Prozeß der Vereinigung teilnehmen“, daraus wird nicht automatisch „Einigung“, warnt Gerd Poppe, Volkskammerabgeordneter des Bündnisses 90. Der Bundesverfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz fragt: „Wie kann die Verfassung ihre Integrationsaufgabe wahrnehmen, wenn 16 Millionen Menschen hinzukommen, die ganz andere Erfahrungen, ganz andere materielle Probleme haben als diejenigen, die das Grundgesetz und die Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit im großen und ganzen als die ihre betrachten?“

Der weltläufige Hannoveraner Verfassungsjurist Hans-Peter Schneider sieht die Gefahr, daß dann unter den ehemaligen DDR-Bürgern die Legende „Ihr habt uns ja bloß angeschlossen“ entsteht, wenn der Vereinigungsprozeß schwieriger und langwieriger wird als erwartet. Die Fraktionssprecherin der Grünen im Bundestag, Antje Volmer, fürchtet: „Ohne eine neue Verfassung könnte das ganze Ergebnis der friedlichen Revolution in der DDR stumm in die Geschichte eingehen.“ Der in jeder Weise brillante Verfassungsrichter Dieter Grimm sagt es so: „Es geht nicht primär um Inhalte, sondern um das Verfahren, wie man zu einem Einverständnis über die Grundordnung kommt.“ Hohe Quoren seien in einem Verfassungsrat notwendig, um den für eine Konstitution erforderlichen Konsens zu erreichen und damit sich die Gesellschaft nicht entzweie. An diesem Punkt könnte ein breiter Konsens möglich sein: Waldemar Schreckenberger, einer der rechtspolitischen Vertrauten des Kanzlers, wünscht sich geradezu die Initiative der SPD, um eine „neue Legitimation für ein Land zu schaffen, das große Aufgaben hat“.

Einig scheint man sich zwischen SPD und CDU auch darin zu sein, den Artikel 29 des Grundgesetzes etwas „aufzulockern“, um die Vergrößerung und Neustrukturierung der Bundesländer zu erleichtern. Der Artikel ist der einzige, der das von der SPD neuerdings so beliebte Element der Volksabstimmung enthält. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag, Herbert Helmrich (CDU), fordert die „offene Verfassungsdiskussion, um die Legitimität zu erhöhen“. Diese Diskussion sollte in „einem entspannten Klima“ stattfinden. Kurzfristige Grundgesetzänderungen weist er mit realistischen Hinweisen auf die Termin- und Urlaubsgepflogenheiten deutscher Parlamentarier zurück.

So wird also nach dem Beitritt der DDR der Artikel 23 (Beitritt zur Bundesrepublik) gestrichen werden. Das ist nicht nur wegen der Zwei-plus-vier-Verhandlungen notwendig, sondern auch deshalb, weil inzwischen in Stettin polnischsprachige Plakate mit dem Wortlaut des Artikels geklebt werden, einfach weil sich's mit D-Mark angenehmer lebt als mit Sloty.

Der Artikel 146 aber, der die Vorläufigkeit des Grundgesetzes regelt und bestimmt, daß sich die Deutschen dann, wenn sie wieder alle zusammen sind, in freier Selbstbestimmung eine neue Verfassung geben, dieser Artikel wird bleiben. Abzuwarten ist, ob dann „windige Exegeten des Grundgesetzes“ das Wort haben oder ob aus dem Grundgesetz „eine Verfassung aller deutschen Länder wird“ (Wolfgang Ullmann, Bündnis 90), die den „Friedenszustand in Europa politisch strukturiert und sichert“.