: Eine Frage der Verpackung
■ In England stürmen immer mehr Klassikplatten
Nigel Kennedy kleidet sich nach der Mode, spricht mit starkem Londoner Akzent, liebt Fußball und unterbricht Konzerttourneen, um beim Heimspiel seines Vereins dabei zu sein. Von seiner letzten Platte sind bisher über 300.000 Exemplare verkauft worden. Aber Nigel Kennedy ist kein Popstar, obwohl sein Album die Charts der Popzeitschriften 'Melody Maker‘ und 'New Musical Express‘ und der Musikindustrie auf den vordersten Plätzen durcheinandergebracht hat - er spielt Violine, und sein jüngster Hit ist eine Einspielung von Antonio Vivaldis Vier Jahrzeiten - die Klassik macht der Popmusik Konkurrenz.
Kennedy steht nicht allein. Neben zwei seiner Platten behaupten sich noch drei andere mit klassischer Musik unter den dreißig besten der englischen LP-Hitparade - ein Opern -Potpourri, eine Sammlung beliebter Klassikmelodien und Luciano Pavarottis Tenor, der außerdem mit der Arie Nessun Dorma aus Giacomo Puccinis Oper Turandot auf Platz zwei unter den Singles vorgedrungen ist. Das Fernsehen der BBC hatte die von Fußballfan Pavarotti gesungene Arie als Erkennungsmelodie für die Übertragungen der Fußballweltmeisterschaft in Italien verwendet, und sie schlug so ein, daß sie seit Wochen schon mit Elton John, einem anderen Fußballnarren, um Platz eins streitet. Auch in Werbespots hört man immer häufiger den Kanon von Johann Pachelbel und Erik Saties Klavierstücke. Opernzeitschriften erleben einen Boom.
Daß die klassische Musik im Kommen ist, weiß man schon seit einiger Zeit. Es ist eine Frage des Marketings und der Werbestrategien: Weg von den Präsentationsformen des 19. Jahrhunderts, die den E-Musiksektor nach wie vor beherrschen - Musiker im Frack und ein Publikum, das stillsitzt. Die Plattenfirmen zogen schnell nach. „Meine Kunden“, sagt Anjali Khanduri vom Londoner Plattenladen „Virgin Megastore“, „wollen keinen gesetzten, älteren Herren mit Violine sehen, sie wollen eine anregende, moderne Verpackung.“ Seine Kunden sind nicht mehr nur die traditionellen Musikliebhaber, die einen gesonderten Musikindustriesektor bildeten, sondern verstärkt diejenigen, die normalerweise Pop kaufen. Sein Umsatz hat sich in den letzten sechs Monaten um etwa zwanzig Prozent erhöht.
Jonathan Morrish vom Platten-Major CBS findet es wichtig, daß „die jungen Solostars nicht so abschrecken wie ihre Vorgänger“. Er glaubt an eine Marketingstrategie, die „auf Persönlichkeitskult setzt wie bei der Popmusik“. Nigel Kennedy wird so vermarktet, ebenso die israelische Cellistin Ofra Harnoy, die auf Postern in der Londoner Untergrundbahn mit tiefem Dekollete und auf einer Chaiselongue hingegossen zu sehen war. Der Verkauf ihrer neuen Platte verfünffachte sich über Nacht. Eine Werbekampagne der English National Opera benutzte gestylte Schwarz-Weiß-Fotos von jungen, gutaussehenden Orchestermusikern, Sängern und Bühnenarbeitern, die aussahen, als wollten sie zu mehr als nur zum Opernbesuch einladen.
Auch der Konzertsaal ist nicht mehr das, was er einmal war. Ein Auftritt des London Chamber Orchestra, begleitet von einem riesigen Publicity-Rummel, fand jüngst im Rockpalast „Hammersmith Odeon“ statt. Über eine riesige Verstärkeranlage, die jeder Rockband Ehre gemacht hätte, ertönte Musik von Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart. „Klassik furchtbar laut“, nannten die jungen Musiker ihre Veranstaltung. Die Musikpresse reagierte entsprechend.
Orchesterleiter Christopher Warren-Green, hauptberuflich Professor an der Königlichen Musikakademie, hatte mit diesem Erfolg gerechnet. „Die Musik ist im 20.Jahrhundert gewaltsam entführt worden.“ Er wolle sie aus den Klauen der Entführer reißen und der Jugend zurückgeben. Sein Konzert war ausverkauft.
Fred Moor/dpa
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen