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Späte Gerechtigkeit

■ Zur Rehabilitierung Stalinscher Opfer in der Sowjetunion

KOMMENTARE

Das Schlußplädoyer Nikolai Bucharins im ersten Moskauer Prozeß 1936 erschüttert heute in der Sowjetunion eine junge Generation, die - um mit den Worten des russischen Historikers Kljutschewski zu sprechen - von der Geschichte nicht dafür bestraft werden möchte, daß sie deren Lehren nicht kennt. Aber das Schauspiel der Rehabilitierung vieler großer Revolutionäre in den letzten Jahren hat etwas den Blick verstellt auf jene Millionen Opfer, von denen noch nicht einmal dialektisch geschliffene letzte Worte überliefert sind. Man hat berechnet, daß die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion zum Ende der 20er und Beginn der 30er Jahre 20 Millionen Tote gefordert hat. Von 1933 bis '35 waren 3,5 Millionen Bauern in Lagern interniert - 70 Prozent der Inhaftierten jener Zeit. Nur wenn man sich solcher Daten erinnert, wird die Bedeutung des Dekrets klar, mit dem Gorbatschow vergangenen Montag eine Generalrehabilitierung aller Opfer der Stalinschen Unterdrückungspolitik verfügte. Ausdrücklich erwähnt Gorbatschow dabei die ermordeten oder verhungerten Bauern. Dies ist um so bemerkenswerter, als der Generalsekretär noch auf der 70. Feier der Oktoberrevolution die Kollektivierung als historische Tat verteidigt und damit eine apologetische Sicht der Geschichte fortgesetzt hatte, der allzuviele Intellektuelle, darunter auch der Schreiber dieses Kommentars, allzulange verfallen waren. Gorbatschow nimmt mit seinem Dekret eine zentrale Forderung der Gesellschaft „Memorial“ auf, die schon auf ihrem Kongreß im Januar letzten Jahres einen präsidialen Erlaß zur Rehabilitierung aller Opfer Stalins gefordert hatte. Freilich fehlt in dem Dekret jeder konkrete Hinweis auf Schadenersatzansprüche oder wenigstens eine Aufstockung der Renten unschuldig Verurteilter.

Vor einem - überaus wichtigen - Schritt ist Gorbatschow allerdings zurückgeschreckt: Indem er die Gültigkeit jener Urteile bekräftigte, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg „wegen Verbrechen gegen das Vaterland“ ausgesprochen wurden, hat er Hunderttausende von ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland, die nach 1945 des Verrats bezichtigt wurden, um späte Gerechtigkeit gebracht. Aber auch hier wird die Gesellschaft „Memorial“ dafür sorgen, daß der demokratische Teil der Öffentlichkeit weiter Druck auf die Regierung ausüben wird. „Memorial“, die mittlerweile in der gesamten Sowjetunion über ein Netz freiwilliger und ehrenamtlicher Mitarbeiter verfügt, ist der eigentliche Träger dieses Prozesses kollektiver Rückerinnerung und Rehabilitation. Bei uns wird viel von ziviler Gesellschaft schwadroniert - hier ist sie in Aktion.

Christian Semler

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