: Endstation ist schon die Tschechoslowakei
■ Im Grenzstädtchen Decin ist die Reise für Flüchtlinge aus Rumänien bereits zu Ende / CSFR-Grenzwachen schotten die zukünftige EG-Außengrenze ab / Druck aus der BRD sorgte für Einreisebeschränkungen für Türken, Rumänen, Roma und Sinti
Aus Decin Bernd Siegler
Verlassen stehen 25 braune Rot-Kreuz-Zelte am Elbufer der tschechischen Kleinstadt Decin, nur zwölf Kilometer vom DDR -Grenzort Schmilka in der Sächsischen Schweiz entfernt. Lediglich ein Zelt wird derzeit noch von einer achtköpfigen Roma-Familie bewohnt. Sie kamen aus Rumänien und wollten nach Berlin. Doch daraus wurde nichts. DDR-Grenztruppen hatten sie in Decin aus dem D-Zug geholt, ihnen fehlten entsprechende Visa beziehungsweise Quittungen für im Voraus bezahlte Quartiere in Berlin. Am Abend transportierten tschechische Grenzwachen die Roma-Familie dann 35 Kilometer weiter nach Krasna Lipa. Das Lager in Decin wird am 17. September endgültig aufgelöst. Es wird nicht mehr benötigt. „Der Flüchtlingsstrom ist versiegt“. Zufrieden reibt sich Oberstleutnant Hans-Ulrich Goldhahn vom zuständigen DDR -Grenztruppenkommando in Pirna bei Dresden die Hände.
Erst am 15. August hatten die tschechischen Behörden auf die verstärkte Flucht von rumänischen BürgerInnen sowie von Roma- und Sinti-Familien aus dem Balkan reagiert und in Decin das Zeltlager in der Nähe des Hauptbahnhofs errichtet. Dort machen die Balkan-Züge Richtung Berlin zum letzten Mal auf tschechischem Boden Station. Sechs Stunden nachdem die Zelte aufgebaut waren, wohnten dort bereits 120 Flüchtlinge, die Hälfte davon Roma und Sinti.
Viele Flüchtlinge versuchten danach noch, illegal über die grüne Grenze in die DDR zu kommen - über die Gipfel des Elbsandsteingebirges oder durch die Wälder der Sächsischen Schweiz zur „Zigeunerheide“, wie ein Grenzstreifen seit Jahrzehnten heißt. Oder immer an der Elbe entlang, Richtung Schmilka, wo die Häuser Namen wie „Daheim“, „Waldfrieden“ oder „Elbblick“ besitzen, und die Bushaltestellen noch mit den DSU-Plakaten „Freiheit oder Sozialismus“ beklebt sind.
Viele Flüchtlinge waren bereits in Decin mit ihren Kräften am Ende. In der Heimat hatten sie alles aufgegeben, um, meist über dubiose Schleuserorganisationen, die Reise in die DDR finanzieren zu können. Von dort hätte es dann weiter in die Schweiz, die USA oder nach Kanada gehen sollen. Doch Decin war vorläufig Endstation der weiten Reise. DDR -Grenztruppen griffen die Flüchtlinge beim illegalen Grenzübertritt auf oder spürten ihnen bereits in den Zügen nach. Nach dem Aufenthalt im Lager der Grenzstadt wurden sie weiter ins Landesinnere transportiert, zum Beispiel nach Zastavka bei Brno. Dort kamen sie in ehemaligen Unterkünften der sowjetischen Armee unter. Dort warten sie auf ihre Abschiebung über Ungarn nach Rumänien. Nur die wenigsten haben einen Asylantrag in der CSFR gestellt.
Druck aus Bayern macht die Grenzen dicht
Josef Hudecek, Major der tschechoslowakischen Grenzwache „Puhranicni Straz“ (PS) und Leiter des Lagers Decin, ist auf die Roma und Sinti nicht gut zu sprechen. „Zuerst bettelten sie immer am Bahnhof, dann waren die vielen Kinder oft krank und im Lager gab es Schlägereien“.
Hudecek dementiert, daß es das Hauptziel des Weitertransports nach Brno gewesen sein könnte, die Flüchtlinge erst einmal von der Grenze wegzuschaffen. „Dort ist alles bequem, den Leuten fehlt es an nichts“.
Doch die meisten Flüchtlinge, insbesondere die mittellosen Roma- und Sinti-Familien, wissen nicht wohin. Wenn das Geld reicht, kommen sie wieder oder weichen in Richtung bayerisch -böhmische Grenze aus und versuchen dort ihr Glück noch einmal. Etwa 2.000 Illegale, vorwiegend Rumänen, Afghanen und Vietnamesen, hat die PS an den tschechischen Grenzen allein im August aufgegriffen und zurückgeschickt. Major Hudecek, der „den Leuten helfen will“, beruft sich wie sein Kollege von der böhmisch-bayerischen Grenze, PS -Oberstleutnant Emanuel Czech aus Cheb (Eger) auf ihre Situation als Grenzpolizisten: „Wir haben keine einfache Aufgabe, aber es ist unsere Pflicht, die Leute wieder zurückzuschicken.“ Beide betonen, daß die CSFR-Behörden die Einreisebestimmungen für Ausländer noch nicht verschärft hätten. Doch Reisende aus den Zügen erzählen, daß die tschechischen Grenzer bereits an der ungarisch-slowakischen Grenze von Rumänen entweder eine formelle Einladung oder aber einen Beleg für bereits entrichtete Zahlungen ihrer Aufenthaltskosten verlangen. Die Anordnung von DDR -Innenminister Diestel, in Zukunft von Rumänen bei der Einreise eine polizeilich bestätigte Einladung für die DDR abzuverlangen, wird also bereits an der ungarischen Grenze umgesetzt.
Auch die Erteilung für Transitvisa an türkische Staatsangehörige wurde inzwischen eingeschränkt - nicht zuletzt nach massivem Druck aus der Bundesrepublik. So verlangte Bayerns Innenminister Edmund Stoiber unzweideutig entsprechende Verschärfungen. Es müsse der CSFR-Regierung „in aller Deutlichkeit klargemacht werden, daß ein Einfügen in die westeuropäische Staatengemeinschaft auch Rücksichtnahme auf die Belange der Nachbarn erfordert und daß die tschechoslowakische Seite nicht pauschal an Hunderte von Türken und Ausländern sogenannte Touristenvisa ausstellen kann.“ Als lobendes Beispiel erwähnte Stoiber dabei Österreich.
Inzwischen ist Werner Ender, Grenzbeauftragter der Bayerischen Grenzpolizei, mit der CSFR-Regierung sehr zufrieden: „Die CSFR hat beim Problem der Türken schnell reagiert.“ Wohlverhalten wird von der CSFR in der Flüchtlingsfrage erwartet - als Vorleistung für die Integration in die westeuropäischen Staaten, sprich die von der CSFR angestrebte EG-Assoziierung. Hand in Hand mit Bundesgrenzschutz und DDR-Grenztruppen helfen Österreich und die CSFR, einen Sperrgürtel um das zukünftige Gesamtdeutschland zu ziehen.
Deutschland dürfe nicht „im Brennpunkt der Zuwanderungsströme aller nicht-europäischen Staaten“ stehen, verlangt Bayerns Innenminister Stoiber. Emanuel Czech spricht nicht gerne von Druck, er nennt das eine „sehr gute Zusammenarbeit mit dem BGS, der bayerischen Grenzpolizei, und dem bundesdeutschen Zoll“.
Auch für die an der Grenze zur CSFR stationierten DDR -Grenztruppen hat sich viel geändert. Es gilt nicht mehr, DDR-Ausreisewillige auf dem Weg in den Westen via CSFR zu stoppen, sondern die zukünftige EG-Außengrenze abzusichern. Das ist auch Hans-Ulrich Goldhahn von der Grenztruppe in der 10.000-Einwohner-Stadt Pirna klar. Goldhahn hat eine steile Karriere im realen Sozialismus hinter sich. Mit seinen 36 Jahren hat er es schon zum Oberstleutnant gebracht und hofft nun, nahtlos in den BGS übernommen zu werden. Goldhahn ist flexibel. Erst letzte Woche hat er mit seinen Soldaten in einer Großaktion Hammer und Zirkel aus den Emblemen der Uniformmützen getilgt. Auch die neue Lage an der Grenze bedeutet für ihn kein Umdenken: „Es ist naturgemäße Aufgabe von Grenzsoldaten, illegale Grenzübertritte zu verhindern, egal in welchem Umfang und in welcher Richtung.“ Über den Umfang braucht sich Goldhahn nun weniger Sorgen zu machen. Das Zeltlager von circa 100 Roma und Sinti, „die mit den dicken Mercedes“ (Goldhahn), an den Elbwiesen in der Stadtmitte von Dresden sei aufgelöst. Lediglich 100 Inder, Rumänen, Türken und Afghanen hätte seine Grenztruppe im August aufgegriffen und postwendend wieder an die Tschechen überstellt. Doch verschärfte Einreisebestimmungen und erhöhte Grenzüberwachung lösen das Problem nicht. Das weiß auch Goldhahn: „Stoppen können wir die Flüchtlinge nicht, nur behindern.“ Schuld an den Flüchtlingsproblemen sei das „ökonomische und soziale Gefälle zwischen den Staaten“. Natürlich könne man den Flüchtlingen nichts vorwerfen, „moralisch verantwortlich“ seien allein die Heimatländer.
Noch nicht einmal 50 Flüchtlinge hätten bisher um Asyl gebeten, sagt Goldhahn: „Von dieser Möglichkeit wissen einfach zu wenige.“ Und das ist dem Oberstleutnant auch recht so. Der zukünftige BGS-Mann betrachtet Ausländer und Flüchtlinge in erster Linie als „Kostenfaktor“ insbesondere für das „dann einheitliche Deutschland“. „Schauen Sie sich doch mal in Dresden in der Prager Straße um, da sind inzwischen mehr Ausländer sowie Roma und Sinti als Deutsche.“
Die Prager Straße ist Dresdens Renommier-Konsummeile direkt vor dem Hauptbahnhof. Neben all den Verkaufsständen mit Nürnberger Bratwürsten, Bayerischem Landbier, Italienischer Pizza fallen die beiden kleinen Roma-Gruppen kaum auf. Sie verkaufen Pullover, Glaswaren oder die Trikots der deutschen Fußballweltmeister, Parkbänke dienen als Verkaufstische. Es unterscheidet sie nichts von der Vielzahl von Straßenhändlern, die westlichen Ramsch von Kung-Fu -Wurfsternen bis hin zum Autoshampoo zu überhöhten Preisen verkaufen - außer ihr Aussehen. Das genügt - nicht nur für Oberstleutnant Goldhahn.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen