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Der Vater als gespenstische Erscheinung

■ Eine Familiengroteske aus der deutschen Nachkriegszeit

Um halb sechs sind die Muscheln geputzt, die Pommes geschnitten. Mutter, Sohn und Tochter sitzen am gedeckten Tisch. Punkt sechs wollte der Vater heimkommen, als frischgebackener „Herr Direktor“. Drei nach sechs kippt die Stimmung der Tochter um. Kurz nach sieben hätte es keiner mehr bedauert, wenn der Vater einfach nicht käme. Gegen acht macht die Mutter die Spätlese auf, und alle drei kommen sich wie Revoluzzer vor. Nach der zweiten Spätlesen kommt heraus, daß die Mutter insgeheim Medea verehrt. Als um dreiviertel zehn das Telefon klingelt, hebt keiner mehr ab. Auch die Mutter nicht. Die Muscheln wandern ungegessen in den Müll. „Eine kleine Verschiebung weg vom Normalen, und plötzlich ist alles anders.“

Was ist in den vier Stunden des Wartens passiert? Ein Familienbuch wurde aufgeschlagen, ein Vater vorgeführt. Ein ganz normales Familienoberhaupt. Fast jeder kennt es. Es geht ihm immer um's Prinzip. Vernunft und Sachlichkeit werden gegen Sentimentalitäten und Phantasien ins Feld geführt. Er verachtet Schwächlinge und Drückeberger, sein Lebensideal sieht er im sportlichen Wettkampf, nichts liegt ihm mehr am Herzen als der familiäre Zusammenhalt:

„Alles in dieser Familie drehte sich nur darum, daß wir so tun mußten, als ob wir eine richtige Familie wären, wie mein Vater sich eine Familie vorgestellt hat, weil er keine gehabt hat und also nicht wußte, was eine richtige Familie ist, wovon er jedoch genaueste Vorstellungen entwickelt hatte, und die setzten wir um...“

Zu dumm, daß nicht jeder dieser Vorstellung entspricht. Ausgerechnet der Sohn ist das Schmusekind, ist von der Mutter verzärtelt worden, ein Feigling und Versager, der nur Vieren heimbringt und keinen Sprung vom Dreimeterbrett wagt. Die Tochter dagegen der reinste „Satansbraten“, verstockt schon seit frühester Kindheit, unhübsch und gefühlskalt. Schuld an allem ist natürlich die Mutter, zuständig für Erziehung, Haushalt und Finanzverwaltung. Aufopferungsvoll nimmt sie stets die Schuld auf sich. Weil sie es nicht aushält, wenn der Haussegen schief hängt. Nur manchmal überkommen sie Tränen, dann setzt sie sich ans Klavier und spielt Schuhmann-Lieder.

Ordnung ist das halbe Leben, und weil das in seiner Abwesenheit regelmäßig in Unordnung gerät, genießt es der Vater, in der Familie aufzuräumen. Dazu knüpft er sich die Familienmitglieder abends einzeln vor. Kein Wunder, daß er immer alles weiß, alles sieht, alles hört. Nach einem guten Schluck Kognak wird die Prügelstrafe als logische Schlußfolgerung zelebriert. Das Geld zusammenhalten mußte die Mutter, weil der Vater immer so großzügig ist - beim Trinkgeld wie bei den japanischen Aktien, die er sich nach jeder Baisse auf's Neue aufschwatzen ließ. Bleibt als Geldanlage nur die Briefmarkensammlung. Vollständig, selbstverständlich, DDR und BRD, seit '45, wie die 'Spiegel‘ -Ausgaben, die alljährlich in Jahresmappen gebunden werden.

Er war nie sehr praktisch veranlagt, der Vater. Bevor sich die Familie in den Westen absetzte, zeigte er sich unfähig, auch nur ein Kilo Bananen in den Osten zu schmuggeln. Im Flüchtlingslager mußte immer die Mutter, die zwei Gören am Arm, um Lebensmittelkarten anstehen. Kein Wunder, daß der ganze Haushalt zusammenbricht, wenn die Mutter mal weg ist, im Krankenhaus zum Beispiel, wegen ihrer dauernden Gallenbeschwerden. Er hat es eben immer schwer gehabt, dieser Vater, hat sich durchboxen müssen, als unehelicher Sohn, der sich für seine Mutter schämte und sie möglichst wenig besuchte, weil es bei ihr immer nach Schmutz und Armut roch. Freilich, als sie starb, sorgte er für ein Begräbnis, wie es pompöser nicht hätte sein können.

Dies sind nur ein paar wenige Beispiele aus dem schier endlosen Erinnerungsband, das Birgit Vanderbeke in ihrer Erzählung abspult. Dabei handelt es sich, wohlgemerkt, nicht um eine der üblichen autobiografischen Abrechnungen mit der eigenen Familiengeschichte. Dieser Gefahr entging die Autorin durch einige äußerst geschickte literarische Kunstgriffe. Als erstes hat sie den langen Erinnerungsprozeß erzählerisch auf vier Stunden komprimiert. Die vermeintlich reale Alltagssituation entpuppt sich als nahezu surreal. Die von der Tochter erzählten Erinnerungen treten nicht mit logischer oder chronologischer Folgerichtigkeit auf, sondern werden fast wie im Traum mittels Verschiebung und Verdichtung aneinandergeknüpft zu einer scheinbar endlos dahinfließenden Prosa.

Zum zweiten vermeidet die Autorin jeden klagenden oder anklagenden Tonfall, schildert nüchtern und kühl, in fast heiterer Gelassenheit, schafft sich und dem Leser eine wohltuende Distanz. Dabei läßt sie nach und nach alle unausgesprochenen Gebote, unterschwelligen Mittel und Methoden Revue passieren, die den Zöglingen der deutschen Nachkriegsgeneration das Heranwachsen schwer gemacht haben. Unter den zwischen 1950 und 1975 geborenen Lesern wird sich kaum einer finden, den die Lektüre nicht fortwährend an seine eigene Geschichte erinnert. Darin besteht die eigentümliche Stärke und Kraft dieser Erzählung. Durch die Erinnerungen setzt ein Prozeß der Bewußtwerdung ein: Plötzlich versteht man, was man sich als Kind immer gefragt hat - wie nämlich die väterliche Autorität funktioniert. Nach vier Stunden hat der Leser mehr über den Zwangscharakter der Familie und die Entstehung von Neurosen erfahren, als die meisten einschlägigen Fachbücher verraten.

Am Ende der Erzählung wandert mit den ungegessenen Muscheln ein ideologischer Grundpfeiler des Bürgertums auf den Müll: die Idee der Familie. Das Idyll der Geborgenheit und Sicherheit erweist sich als Mischung aus Heiliger Inquisition, Sträflingsgaleere und Gummizelle. Doch der schreckliche Tyrann, so hat sich herausgestellt, ist auch bloß ein armseliges Würstchen, eine gespenstische Erscheinung, die nur noch im Schloß der Erinnerungen durch die Gänge spukt und ihr Unwesen treibt.

Der Verzicht auf die namentliche Benennung der Figuren zeigt, daß Birgit Vanderbeke nicht eine bestimmte Familie meint, sondern einen bestimmten Typ. Mit großer erzählerischer Kunst - für die sie zurecht mit dem diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde stürzt sie eine Elterngeneration vom Sockel, die ihre Ideale in der Aufopferungsbereitschaft der Trümmerfrauen und der ungebremsten Überlebenswut der Kriegsheimkehrer fand, eine Generation, die wieder ganz unten anfing, um wieder ganz hoch hinaus zu kommen, die den banalen Alltag als Hochleistungssport betrieb und die mit der ihr eigenen Gründlichkeit den „gesamtdeutschen Vollständigkeitstraum“ in der Briefmarkensammlung verwirklicht hat. Die deutsche Nachkriegsgeschichte: kein Familiendrama, sondern eine familiäre Groteske. Kein Wunder, daß am Ende dieser Ära ein Überpapa steht, der im neuen Reich Geschichte macht wie einstmals Pere Ubu im Reiche der Pfuinanzen.

Holger Fock

Birgit Vanderbeke. Das Muschelessen. Rotbuch Verlag 1990.

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