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Aufgetautes Theater

Zum Gastspiel des Moskauer Taganka-Theaters und seines Regisseurs Juri Ljubimow bei den Berliner Festwochen  ■ Von Oksana Bulgakowa

Taganka heißt ein altes Moskauer Viertel. Wenn man früher Taganka sagte, war immer das dortige Gefängnis gemeint. Später hieß das Theater so. Die Schauspieler spotteten oft über diese Verwechslung. Das freche, ewig junge Studententheater nutzte 1964 das letzte bißchen Tauwetter-Freiheit und sorgte allen zum Trotz zwei Jahrzehnte lang für Aufregung. Das Theater existierte als geduldete Herausforderung, als es ansonsten nur Küchengeflüster, Ausstellungen in Garagen, Konzerte in Heizungskellern, per Hand abgetippte Bücher, weitergereichte Tonbänder gab — die breite Underground-Kultur der Breshnew- Ära. Literatur, Malerei, Musik konnten sich über Wasser halten. Das Theater aber konnte kaum heimlich arbeiten, besonders so ein lautes nicht, wie es Juri Ljubimow machte. Er machte viel. Und vieles von dem, was er machte, war verboten.

Die Situation im und ums Theater war merkwürdig. Angelegt als politische und ästhetische Opposition, vereinigte es linke Künstler und Intellektuelle. Doch die Eintrittskarten bekamen langsam den Wert von harter Wärung, es war eine Prestigefrage, dort hinzugehen und den Aufführungen wie halb erlaubten Sensationen beizuwohnen. Die Karten wurden auf dem Schwarzmarkt hochgehandelt oder über die Sonderkassen des Kreml und Intourist verteilt. So liefen die politischen Aufführungen (und sie wurden immer politischer) vor einem merkwürdig gemischten Publikum: Ausländer, Funktionäre und Spekulanten. Im Emsemble, das den Personenkult nicht wollte, gab es dennoch bald den Kult seines Chefregisseurs. Die Situation löste sich 1983 auf sensationelle Weise, als Ljubimow im Westen blieb und der Regierung ein Ultimatum stellte: Er wollte einige Aufführungen freipressen. Das war höchst unüblich, Ljubimow wurde ausgebürgert.

Vergangene Woche kam Juri Ljubimow zu den Berliner Festtagen mit drei aufgetauten Inszenierungen — 22, 10 und 8 Jahre alt. Er und seine Truppe wurden aus verschiedenen Richtungen eingeflogen — der Chef aus Israel, die Artisten aus Moskau. Nikolai Gubenko, Schauspieler und seit einem halben Jahr UdSSR-Kulturminister, der auf der Bühne den Boris Godunow spielt, hat erwirken können, daß Ljubimow wieder nach Moskau kommen konnte, zunächst als Privatperson — auf seine private Einladung — und sein Theater zurückbekam. Leider waren die „Verbotsinszenierungen“ nur in einem Teil Berlins zu sehen: Das Gastspiel in der DDR und im Ostteil der Stadt war gestrichen worden: kein Geld.

Wladimir Wyssozki, Puschkins Boris Godunow, Der Lebendige nach Boris Moshajew — ein eingefrorenes und wiederaufgetautes Theater. Geht das? Eigentlich kaum. Fisch kann nur von erster Frische sein, sagte der Teufel im Theaterbüffet, als Michail Bulgakow ihn in seinem Roman nach Moskau schickt und vom Lachs der „zweiten Frische“ kosten läßt. Mit dem Theater ist es ähnlich. Die Schauspieler werden älter, die Zeit ist eine andere, und die Akzente ändern sich zwangsläufig — verändern das Theater gegen den Willen seines Erfinders.

Besonders kraß ist das bei Wyssozki. Vor zehn Jahren machte das Theater eine Aufführung über Wladimir Wyssozki, Star Hamlet in Blujeans. Als Beschwörung des Lebens, der Stimmkraft, Vitalität und Frechheit in einer Zeit der heuchlerischen Stille. Damals war die Aufführung verboten — ich sah sie in einer Durchlaufprobe , die Ljubimow für „ganz Moskau“ öffentlich gemacht hatte als Ersatz für den tabuisierten allabendlichen Betrieb. Der Zuschauerraum, mit weißen Laken bedeckte Sessel — das ist die einzige Dekoration, leere Theatersitze als Golgatha auf der Bühne, ein karges und sperriges Bühnenbild — eine spiegelartige Umkehrung des Theatersaals. Die Sessel werden vertikal, horizontal, quer gewendet, sie fliegen gar, doch es ist ein schwerer Flug. Die Sessel als Altar, als Presse, die die Darsteller in die Knie zwingt, als Gitter im faulem Staate Dänemark. Die Truppe spielt Hamlet ohne Hamlet. Damals zitterten den Schauspielern auf der Bühne die Stimmen, Tränen standen in den Augen, Wyssozki war gestorben. Auf theatralische Weise — in der Nacht vor einer Hamletvorstellung. Und seine verbotenen, nicht zensierten Lieder damals mit voller Stimmkraft zu singen, war ein Akt öffentlichen Muts.

Paradoxerweise wurde er, der Mythenentweiher, selbst zum Mythos. Der die Propheten so heftig verspottete, wurde er bald selbst als solcher gebraucht. Er konnte den Kreis nicht sprengen. Den Kreis der eigenen Existenz mit Wodka und Drogen, der ihn verfolgenden Gerüchte, der hysterischen Vergötterung, der offiziellen Nichtanerkennung. Das Theater wollte damals gegen diese einsetzende Mythisierung wirksam werden.

Nun sind zehn Jahre vergangen. Aus Wyssozki, dem verbotenen Narr, wurde ein Staatspreisträger posthum, der „Sänger der Perestroika“, der Ritter der Wahrheit. Und aus Ljubimow, dem vertriebenen Künstler, der Euro-Regisseur mit israelischem Paß, der seine russischen Schauspieler nun mit westlicher Disziplin zu erziehen versucht, wider die Destruktion von innen mittels Wodka. Die Aufführung verwandelte sich aus der einstigen Beschwörung des Lebens in eine Messe für den Toten. Kuppeln, Kirchengesang, Wyssozkis Stimme aus dem Jenseits... Vom Tonband natürlich, ganz materiell. Er spricht mit den Lebenden, Zurückgelassenen und verkündet ihnen die höhere Weisheit. Alles in Hamlet-Monologen, also mit fremden Wörtern. Oder hilft, wenn ihnen die Stimme wegbleibt — bei dem Versuch, seine Lieder zu singen. Wyssozki ist ein merkwürdiger Spiegel, in den das Theater schaut. Er glorifiziert nicht nur seinen Star, sondern auch sich selbst für den damaligen Mut, der heute keiner mehr ist.

Die Aufführung in Berlin dauerte zwei Stunden ohne Übersetzung. Im Hebbel-Theater sorgte nur die Kolonie der Emigranten und Sowjet- DDRler für Nachhall. Selbst die Stimme Wyssozkis vom Band klang stumpf, kraftlos. Die ewig jungen wurden älter. Der Star ist tot. Das Theater hat eine hauseigene Reliquie daraus gemacht. Gaunerlieder als Religionsersatz.

Für diese herbe Enttäuschung entschädigte Boris Godunow, Ljubimows strengste und vielleicht vollkommenste Inszenierung. Historisches Theater im Land der stets umgeschriebenen Geschichte. Ein selten inszeniertes Stück. Meyerhold hatte damals, in den 30er Jahren, nicht gewagt, seine Arbeit am Godunow zu Ende zu führen. Ljubimow fand für dieses Drama ewiger Nichtentsprechung zwischen Volk, Machthabenden und Geschichtsverlauf ein lakonisches und wirksames Mittel: im singenden Reigen, im kollektiven Theaterkörper. Die Bühne ist nackt, durch eine hölzerne Mauer ihrer Tiefe beraubt. Zwei Stühle, ein Brett, ein Zarenstab (das einzige Machtsymbol) ein zerbeulter rostiger Eimer (Zeichen für alles, auch für Fontäne), ein Wegweiser „Europa-Asien“ füllen den Raum mit wenigen Requisiten. Dieser Raum ist das Theater selbst, das Drama wird zum Spiel in der Garderobe. Die Schauspieler stecken in alten Theaterkostümen aller Epochen, schon abgewetzt von der häufigen Benutzung, mit Maskenmantel bedeckt, angezogen. Godunow wird bei der Krönung ein asiatischer Chalat übergestülpt, Dimitri hat die Uniformjacke eines anarchischen Matrosen (aus Kronstadt?) an. Der Reigen: das Theatervolk. Ein kollektiver Körper, gemacht aus Musik, Stimmen, Summen, Rhythmus. Ljubimow restaurierte mit Hilfe des Chorleiters Dimitri Pokrowski den Interpretationsstil der alten russischen Lieder, nicht als Kunst-Mittel, sondern so wie man diese Lieder früher im Alltag gebraucht hatte: bei Begräbnis, Hochzeit, Feiern, schwerer Arbeit. Das Volk ist nicht stumm, stimmlos ist die Öffentlichkeit, die Zuschauer. Ihre Stimmlosigkeit vereint das Historische und das Heutige. Nikolai Gubenko gibt die letzte Frage der Tragödie in den Saal weiter: Warum schreit ihr nicht „Hurra!“?. Das Publikum bleibt natürlich stumm und spielt so die berühmteste Remarque Puschkins: „Das Volk schweigt.“

Auf der Bühne wird nüchtern das Drama des „Geschichtenmachens“ präsentiert. Egal, wer der Ausführende ist (der kluge, alles durchschauende Pragmatiker Boris, der spontane Abenteurer Dimitri, das unerfahrene Kind, Boris Sohn), die Macht bleibt vom Volk getrennt, Moral existiert auf beiden Seiten nicht, die Einsätze sind hoch, doch die Endstation heißt Tod. Erschreckend die Ruhe, mit der die Schauspieler die Ausweglosigkeit des Zustands offenbaren, an dem sich seit Godunow so wenig geändert hat. Deshalb bleibt das Stück in Ljubimows Interpretation tragisch, und das nicht nur in der Zeit des Ablebens von Breshnew und Andropow, als er es probte, sondern auch in der Situation der jüngsten von Gorbatschow gedeckten Regierungskrise. Das wird zum politischen Stück voller Witz, mit deftigem Humor, chaplinesken Tricks, mit modernen psychologischen Kostümen für die Helden, mit einem naiven und wirksamen Zeichensystem und perfektem Rhythmus — und einem großartigen Gubenko.

Der Lebendige wurde vor 22 Jahren begraben, 1967. Er war ein russischer rechtloser armer Bauer, ein ewiges Stehaufmännchen. Das Schicksal des Helden deckte sich mit dem des Stückes. Damals geriet Der Lebendige unter die Räder der planmäßigen Dissidentenverfolgung. Man erzählt sich, daß bei der Szene, als über den armen Bauern und seine hungrigen Kinder ein Engel im zerrissenen Trikot flog und ihnen ein bißchen Gries hinstreute, die damalige Kulturministerin Furzewa blaß geworden sei und geschrien habe, ob der Parteisekretär im Saal anwesend sei: „Schämen Sie sich nicht, an solch einer Unart teilzuhaben? Und so was zeigt man gar Ausländern! Da brauchen Sie nicht mal durchs Land zu fahren, um das alles zu sehen. Sie können gleich im Theater damit anfangen, Ihre Verleumdungen zu schreiben!“

1975 erlaubte man Ljubimow, die Aufführung Kolchosvorsitzenden zu zeigen, damit echte, handverlesene Bauern dem Regisseur erklären konnten, daß das Leben des Volkes anders ist als bei ihm im Stück. 1989 durfte er es endlich spielen. Nun läuft Der Lebendige gar vor Ausländern im Ausland. Und im Inland gibt es nicht genug Brot. Nicht Ende der 50er Jahre, wo das Stück spielt, sondern heute, jetzt, in Moskau, der Hauptstadt dieses riesigen Landes.

Ljubimow unterdessen inszeniert in Karlsruhe weiter. Taganka ist nur noch Station in seinem Terminkalender.

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