Struwwelpeter-Gesellschaft

■ “Was brennt länger oder Warum schreit Ihr Kind so?“, von/mit R.Höhn, Shakespeare-Company

Das Drama des begabten Kindes ist, wie der Name schon sagt, dramatisch. Aber Stoff für die Bühne? Jajaja. Rudolf Höhn hat das Kunststück fertiggebracht, Kindheit als das vor-und aufzuführen, was sie ist: eine theatralische Inszenierung. Tragisch komisch. Als oft nur gering überzeichnete Nachstellung von Wirklichkeit von dir und mir und Rudolf Höhn. Was gehen einen Rudolf Höhns Eltern an? Vielvielviel. Alle Schrecken fliegen hoch. Und der Theatersessel wird zum Schleudersitz in eine Vergangenheit, die man gerne als Paradies verklärdrängt. Wer will schon zugeben, daß er eigentlich Struwwelpeter heißt? Eben. Und Karl Kraus' doppeldeutige „Familienbande“ meint immer andere Banden.

Die Familie ist aber immer und überall. Auch in der Schweiz, wo Rudolf Höhn herkommt. Da vielleicht noch perfider wegen dem Diminutivli immer und überall, das den Strick, an dem man sich vielleicht aufhängen will, zum Strickli macht und man deswegen lieber weiterlebt. Vielleicht wird man dann Schauspieler und schreibt sich die Kindheit am (Bühnen)Stück von der Seele, ganz ohne selbsttherapeutische Peinlichkeit. Rudolf Höhn und sein Regisseur Rainer Iwersen bauen einen sehr sensiblen, intelligenten und episodenbunten Spannungsregenbogen auf: von der subtilen Perfidie elterlicher Haß-und Maßregelungen bis zu abgründig fürchterbarer Komik, wo wir uns am Lachen wie an einem Strohhalm festhalten; es ist aber einer mit Knick. Das beginnt schon, wenns anfängt: Rudolf Höhn stellt sich zwischen uns, spielt erstklassig einen drittklassigen Schmierenwitzerzähler und macht uns infam zu einem Stammtisch-Publikum. Das gipfelt in einer Handke'schen Publikumsbeschimpfung. wir sollen uns ja nicht einbilden, wir Idioten, daß wir auf Kosten anderer, z.B. seiner, lachen könnten. Wir lachen gezierter, uns schwant: es geht um uns, also ab in die Distanz. Das könnte uns so passen! Schwupp — holt er uns wieder raus. Wie wir überhaupt zwei Stunden wie Nasenbären durch seinen Psychoring geführt werden. Rudolf Höhn spielt auf nichts als einem Stuhl-Bühnenbild: das Richardli, seine Berti-Mutter, den Arnoldi-Vater, auch ein paar Röslis oder Streulis. Als Mutter ist er eine leibhaftige Migräne mit Zitronen-Gesicht, schwyzerdütschig, immer leidend, scheinbar duldend, die Arme verdruckst vor dem Magen: jaja, der Bub war eine Steißlage, und dann nichts als Widerworte und Undank, Undank, Undank und überhaupt hat bei uns nie einer gekaschpert und immer blamiert hat der Bub einen... Und ganz schnell kippt die Real-Satire in existentiellen Ernst, wenn die Mutter prahlt, wie sie potentielle Freundinnen jeweils rechtzeitig vor dem Bub gewarnt hat. Und wie man sich grault bei dem Besuch von Mutter und Sohn im Hutladen: Entweder die rembrandtbraune Baschkenmütze oder keine, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, ihn zu brechen. Die öffentliche Denunziation von Kindern vor Hutverkäufern paßt zu den mörderischen Fronten in den unheimlich heimeligen vier Wänden. Ja, das kennen wir so gut, daß dem Herz schwindelt und der Kopf klopft. Und lacht der Herr vor mir nicht ein bißchen zu laut? Der Vater, übler Überich, ist der eigentliche Schmierenkomödiant, dem die Simmentaler Stiere auf der Besamungsstation leid tun, daß ihm die Tränen kommen, der sich gerne lustig macht auf Kosten anderer. Wie wir, das Publikum. Denn zwischendurch spielt s'Richardli immer wieder den erwachsenen Entertainer, spielt virtuos mit der Rolle des narzißtisch Gekränkten, der sich ans Publikum ranschmeißt — „Ich liebe euch“ — und doch geliebt, geliebt, geliebt werden will. Tun wir hiermit. Claudia Kohlhase